Kulturelle Identität
Ebenso wie ein Baum Halt und Standhaftigkeit durch seine
Wurzeln gewinnt, so braucht auch der Mensch ein natürliches Gehaltensein
inmitten der Stürme seines Lebens. Verwurzelung durch das Bewusstwerden der
eigenen Identität umfasst mehrere Bereiche. Einer davon ist die kulturelle
Zugehörigkeit. Selbstvertrauen, Geborgenheit und Sicherheit erlebt man dort, wo
man sich zu Hause fühlt. Sich geliebt wissen von treuen Bezugspersonen ist das
Eine, doch Anpassung und eine Sicherheit bezüglich der gesellschaftlichen
Umgangsformen und Normen ist das Andere.
In unserem Kinderdorf wachsen die Kinder in einem
interkulturellen Kontext auf, der als eigenes Dorf, das von einer Mauer umgeben
ist, weder eine astreine haitianische noch eine deutsche oder schweizer Kultur
lebt. Das Christentum bringt gewisse Werte und Normen ein, welche die
Umgangsformen zusätzlich stark prägen, interessanterweise aber nicht unbedingt
auf allen Kontinenten in jeder Gesellschaft gleich akzentuiert ist. Eine ganz
neue Mischung entsteht, die man als
Drittkultur bezeichnen kann.
Ein wunderschönes eigenes Weben und Leben. Eine Kommune, die
Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelt, sowie die Vorteile verschiedener
Kulturen zusammenbringt. Doch rein naiv sollte man dies nicht betrachten. Ein
Kind, das allein auf solch einer isolierten Insel großwerden würde, wäre
außerhalb nicht wirklich lebensfähig - doch mit 19 Jahren wird es ausziehen und
steht als Waisenkind erneut verlassen da. Wie
können wir unseren Kindern also eine natürliche Einbindung in die haitianische
Kultur vermitteln während sie in unserem Kinderdorf großwerden?
Unsere Kindermütter sind ausschließlich Haitianer. Auch wenn
Ausländer pädagogische Schulungen übernehmen, ist es jeweils an den
Kindermüttern diese Theorie in ihren eigenen kulturellen Kontext einzubinden
und ihn in ihrem Lebensalltag umzusetzen. Volontäre und Besucher beteiligen
sich an der Freizeitgestaltung etc., werden aber nicht verantwortlich für die
tägliche Kinderbetreuung eingebunden wie es in vielen anderen Heimen üblich
ist. Die Wertschätzung der Kultur lässt sich schnell als Ideal über eine
Projektbeschreibung titulieren, doch sie im Handeln und Sprechen zu leben ist
eine tagtägliche Herausforderung für alle.
Uns Deutschen stoßen Begriffe wie Patriotismus,
Vaterlandsliebe oder Fahnenfest durch den historischen Missbrauch emotional
auf. Je länger ich im Ausland (Frankreich und Haiti) lebe, umso patriotischer
werde ich J. Johannes Rau erklärte: „Ein Patriot ist jemand,
der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der
anderen verachtet.“ Wie sieht es mit der
Idealisierung der Vaterländer der anderen aus, die zur Verachtung des eigenen
führt? Reiche Länder als besser, gebildeter, fortschrittlicher, sozialer
hochzuheben ist keine gesunde Form von Respekt oder Wertschätzung. Alles was
idealisiert wird, wird zu einem anderen Zeitpunkt verachtet. Aufrichtige
Wertschätzung entspringt einem bodenständigen Bewusstsein über die eigene und
die fremde Identität, die trotz ihrer Andersartigkeit als gleichwertig
betrachtet werden. Hochtrabende Ziele, doch jeder Weg wird bekanntlich in
einzelnen Schritten begangen:
Wir pflegen gute und regelmäßige Kontakte zu den
Herkunftsfamilien und besuchen Familienangehörige auch in deren ländlichen
Ortschaften und weit entfernteren Städten trotz oft unwegsamen „Straßen“. Immer wieder gibt es Diskussionen, ob wir
unseren Kindern die oft bildungsschwachen Beziehungen, die armen
Wohnverhältnisse und manchmal auch die Konfrontation mit Vodoo während der
Ferien oder anderen Besuchen zumuten können. Alles verständige Argumente um
Kinder in einer Institution völlig isoliert in einem geschützten Rahmen zu
bewahren – Für langfristige Denker ist dies jedoch keine Alternative.
Unsere Kinder gehen in städtische Kirchen und Schulen,
pflegen dort Freundschaften und lernen altersgerecht auf dem Markt einzukaufen,
an Freizeitaktivitäten außerhalb teilzunehmen und im Jugendalter ermöglichen
wir ihnen kleinere Reisen um ihr Land zu entdecken und andere Institutionen
kennenzulernen.
Biographiearbeit dient nach John McTaggart dazu, „die
Erinnerung an die Vergangenheit als Lebensbilanz, die Begleitung in der
Gegenwart als Lebensbewältigung, sowie die Perspektive für die Zukunft als Lebensplanung“ zu unterstützen (Wikipedia, Biographiearbeit
14.07.2018). Unsere Sozialpädagoginnen arbeiten nach diesem Konzept. Besonders
hart sind diese Prozesse für Findelkinder, die keinerlei Informationen über
ihre genetischen Wurzeln haben. Der Mangel an familiärer Einbindung und
Beheimatung hinterlässt ein Gefühl von Leere oder sich schwebend im Raum
befinden. Wie will man so den Herausforderungen des Lebens begegnen? Gott sei
Dank gibt uns Jesus eine feste Identität, die unabhängig von Rasse oder
Herkunftsfamilie besteht.
Doch auch die Einbindung in den gesellschaftlichen und
historischen Kontext ist eine tragende Säule. Nur unsere haitianischen
Mitarbeiter können unseren Kindern den Nationalstolz und die Freude an
gesellschaftlicher Zugehörigkeit vermitteln. Am 18.Mai fand das alljährliche Fahnenfest
statt. Ein wunderschöner Tag voller Freude: Kuchen, Deko, Kleidung, Schminke
trugen die Nationalfarben rot/blau. Haitianische Musik, kultureller Tanz,
folklorische Trachten, traditionelle Symbole und die Geschichte der Landesfahne
boten ein reichhaltiges Programm. Ein unvergesslicher Tag für alle. 7 Jahre
lang haben sie mir solch ein Event vorenthalten – weil niemandem bewusst war,
wie wichtig solch Feste sind.
Der Roman „Wurzeln“ von Alex Harley (amerikanisches Original
Roots: The Saga of an American Family) gibt Einblick in den historische
Kontext der haitianischen Tragödie. Aus verschiedenen afrikanischen Stämmen
geraubt, versklavt, verschifft, als Eigentum mit dem Namen des Besitzers
benannt, nach Zuchtkriterien zwangsvermehrt, als Ware weiterverkauft.
Ahnenforschung ohne Geburtsregister. Ausländische Archive über Verschiffung
etc. sind unvollständig und nur im entsprechenden Ausland zugänglich. 200 Jahre
Unabhängigkeit – ein Volk dass zusammengewürfelt aus verschiedenen Sprachen,
Kulturen vom Kontinent Afrika stammt. Die ersten Generationen überlebten als
Sklaven. Wie soll dieses Volk heutzutage eine gewachsene stabile Kultur
vorweisen? Wie lange haben wir Europäer für unsere Entwicklung gebracht? Auch
Wurzeln brauchen Zeit zum Wachsen, so auch kulturelle Entwicklungen. Imitation
anderer Völker ist keine Lösung. Hier stehen wir Entwicklungshelfer und
besonders Missionare in der Gefahr eigene Werte überzustülpen anstatt geduldig
Raum für die Entwicklung der eigenen Identität zu geben.
Herausfordernd. Immer wieder Grund um demütig anzuerkennen,
dass diese Arbeit menschlich nicht zu bewältigen ist, sondern in Gottes Hände
gebettet gehört. Lasst uns beten:
v
Mögen unsere Kinder ihre emotionale
Verbundenheit mit ihrer eigenen Nation entwickeln dürfen!
v
Mögen wir als Leitung sensibel bleiben für
dieses Thema und ein sicheres Geländer und feste Stützen geben ohne Eigenes zu
Implantieren. Man kann einen Stil nachahmen, sich dementsprechend anziehen,
doch wahre Kultur fließt aus dem Herzen und ist nicht von außen aufsetzbar.
v
Möge Gott jedem Einzelnen begegnen und wahre
Identität und Gleichwertigkeit zugänglich machen – nicht nur dort wo tiefe
Wunden des Verstoßenseins eitern.
v
Möge jeder Freund der Lebensmission seinen Blick
nicht nur auf finanzielle Spenden richten, sondern sein Herz öffnen für die
komplexen Realitäten des menschlichen Lebens.
v
Möge die Kinderdorf-Kommune ein natürliches
Modell sein von gesundem interkulturellem Leben in dem Waisen Heimat finden und
voller Selbstvertrauen als Erwachsene der haitianischen Gesellschaft Wurzeln
schenken können.