Montag, 10. September 2018

Auszug aus MH: "Kulturelle Identität"


Kulturelle Identität

Ebenso wie ein Baum Halt und Standhaftigkeit durch seine Wurzeln gewinnt, so braucht auch der Mensch ein natürliches Gehaltensein inmitten der Stürme seines Lebens. Verwurzelung durch das Bewusstwerden der eigenen Identität umfasst mehrere Bereiche. Einer davon ist die kulturelle Zugehörigkeit. Selbstvertrauen, Geborgenheit und Sicherheit erlebt man dort, wo man sich zu Hause fühlt. Sich geliebt wissen von treuen Bezugspersonen ist das Eine, doch Anpassung und eine Sicherheit bezüglich der gesellschaftlichen Umgangsformen  und Normen ist das Andere.
In unserem Kinderdorf wachsen die Kinder in einem interkulturellen Kontext auf, der als eigenes Dorf, das von einer Mauer umgeben ist, weder eine astreine haitianische noch eine deutsche oder schweizer Kultur lebt. Das Christentum bringt gewisse Werte und Normen ein, welche die Umgangsformen zusätzlich stark prägen, interessanterweise aber nicht unbedingt auf allen Kontinenten in jeder Gesellschaft gleich akzentuiert ist. Eine ganz neue  Mischung entsteht, die man als Drittkultur bezeichnen kann. 

Ein wunderschönes eigenes Weben und Leben. Eine Kommune, die Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelt, sowie die Vorteile verschiedener Kulturen zusammenbringt. Doch rein naiv sollte man dies nicht betrachten. Ein Kind, das allein auf solch einer isolierten Insel großwerden würde, wäre außerhalb nicht wirklich lebensfähig - doch mit 19 Jahren wird es ausziehen und steht als Waisenkind erneut verlassen da. Wie können wir unseren Kindern also eine natürliche Einbindung in die haitianische Kultur vermitteln während sie in unserem Kinderdorf großwerden?
 
Unsere Kindermütter sind ausschließlich Haitianer. Auch wenn Ausländer pädagogische Schulungen übernehmen, ist es jeweils an den Kindermüttern diese Theorie in ihren eigenen kulturellen Kontext einzubinden und ihn in ihrem Lebensalltag umzusetzen. Volontäre und Besucher beteiligen sich an der Freizeitgestaltung etc., werden aber nicht verantwortlich für die tägliche Kinderbetreuung eingebunden wie es in vielen anderen Heimen üblich ist. Die Wertschätzung der Kultur lässt sich schnell als Ideal über eine Projektbeschreibung titulieren, doch sie im Handeln und Sprechen zu leben ist eine tagtägliche Herausforderung für alle. 

Uns Deutschen stoßen Begriffe wie Patriotismus, Vaterlandsliebe oder Fahnenfest durch den historischen Missbrauch emotional auf. Je länger ich im Ausland (Frankreich und Haiti) lebe, umso patriotischer werde ich J.  Johannes Rau erklärte: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“  Wie sieht es mit der Idealisierung der Vaterländer der anderen aus, die zur Verachtung des eigenen führt? Reiche Länder als besser, gebildeter, fortschrittlicher, sozialer hochzuheben ist keine gesunde Form von Respekt oder Wertschätzung. Alles was idealisiert wird, wird zu einem anderen Zeitpunkt verachtet. Aufrichtige Wertschätzung entspringt einem bodenständigen Bewusstsein über die eigene und die fremde Identität, die trotz ihrer Andersartigkeit als gleichwertig betrachtet werden. Hochtrabende Ziele, doch jeder Weg wird bekanntlich in einzelnen Schritten begangen:
Wir pflegen gute und regelmäßige Kontakte zu den Herkunftsfamilien und besuchen Familienangehörige auch in deren ländlichen Ortschaften und weit entfernteren Städten trotz oft unwegsamen „Straßen“.  Immer wieder gibt es Diskussionen, ob wir unseren Kindern die oft bildungsschwachen Beziehungen, die armen Wohnverhältnisse und manchmal auch die Konfrontation mit Vodoo während der Ferien oder anderen Besuchen zumuten können. Alles verständige Argumente um Kinder in einer Institution völlig isoliert in einem geschützten Rahmen zu bewahren – Für langfristige Denker ist dies jedoch keine Alternative.
Unsere Kinder gehen in städtische Kirchen und Schulen, pflegen dort Freundschaften und lernen altersgerecht auf dem Markt einzukaufen, an Freizeitaktivitäten außerhalb teilzunehmen und im Jugendalter ermöglichen wir ihnen kleinere Reisen um ihr Land zu entdecken und andere Institutionen kennenzulernen.
Biographiearbeit dient nach John McTaggart dazu, „die Erinnerung an die Vergangenheit als Lebensbilanz, die Begleitung in der Gegenwart als Lebensbewältigung, sowie die Perspektive für die Zukunft als Lebensplanung“  zu unterstützen (Wikipedia, Biographiearbeit 14.07.2018). Unsere Sozialpädagoginnen arbeiten nach diesem Konzept. Besonders hart sind diese Prozesse für Findelkinder, die keinerlei Informationen über ihre genetischen Wurzeln haben. Der Mangel an familiärer Einbindung und Beheimatung hinterlässt ein Gefühl von Leere oder sich schwebend im Raum befinden. Wie will man so den Herausforderungen des Lebens begegnen? Gott sei Dank gibt uns Jesus eine feste Identität, die unabhängig von Rasse oder Herkunftsfamilie besteht.
Doch auch die Einbindung in den gesellschaftlichen und historischen Kontext ist eine tragende Säule. Nur unsere haitianischen Mitarbeiter können unseren Kindern den Nationalstolz und die Freude an gesellschaftlicher Zugehörigkeit vermitteln. Am 18.Mai fand das alljährliche Fahnenfest statt. Ein wunderschöner Tag voller Freude: Kuchen, Deko, Kleidung, Schminke trugen die Nationalfarben rot/blau. Haitianische Musik, kultureller Tanz, folklorische Trachten, traditionelle Symbole und die Geschichte der Landesfahne boten ein reichhaltiges Programm. Ein unvergesslicher Tag für alle. 7 Jahre lang haben sie mir solch ein Event vorenthalten – weil niemandem bewusst war, wie wichtig solch Feste sind.
Der Roman „Wurzeln“ von Alex Harley (amerikanisches Original Roots: The Saga of an American Family) gibt Einblick in den historische Kontext der haitianischen Tragödie. Aus verschiedenen afrikanischen Stämmen geraubt, versklavt, verschifft, als Eigentum mit dem Namen des Besitzers benannt, nach Zuchtkriterien zwangsvermehrt, als Ware weiterverkauft. Ahnenforschung ohne Geburtsregister. Ausländische Archive über Verschiffung etc. sind unvollständig und nur im entsprechenden Ausland zugänglich. 200 Jahre Unabhängigkeit – ein Volk dass zusammengewürfelt aus verschiedenen Sprachen, Kulturen vom Kontinent Afrika stammt. Die ersten Generationen überlebten als Sklaven. Wie soll dieses Volk heutzutage eine gewachsene stabile Kultur vorweisen? Wie lange haben wir Europäer für unsere Entwicklung gebracht? Auch Wurzeln brauchen Zeit zum Wachsen, so auch kulturelle Entwicklungen. Imitation anderer Völker ist keine Lösung. Hier stehen wir Entwicklungshelfer und besonders Missionare in der Gefahr eigene Werte überzustülpen anstatt geduldig Raum für die Entwicklung der eigenen Identität zu geben.
Herausfordernd. Immer wieder Grund um demütig anzuerkennen, dass diese Arbeit menschlich nicht zu bewältigen ist, sondern in Gottes Hände gebettet gehört. Lasst uns beten:
v  Mögen unsere Kinder ihre emotionale Verbundenheit mit ihrer eigenen Nation entwickeln dürfen!
v  Mögen wir als Leitung sensibel bleiben für dieses Thema und ein sicheres Geländer und feste Stützen geben ohne Eigenes zu Implantieren. Man kann einen Stil nachahmen, sich dementsprechend anziehen, doch wahre Kultur fließt aus dem Herzen und ist nicht von außen aufsetzbar.
v  Möge Gott jedem Einzelnen begegnen und wahre Identität und Gleichwertigkeit zugänglich machen – nicht nur dort wo tiefe Wunden des Verstoßenseins eitern.
v  Möge jeder Freund der Lebensmission seinen Blick nicht nur auf finanzielle Spenden richten, sondern sein Herz öffnen für die komplexen Realitäten des menschlichen Lebens.
v  Möge die Kinderdorf-Kommune ein natürliches Modell sein von gesundem interkulturellem Leben in dem Waisen Heimat finden und voller Selbstvertrauen als Erwachsene der haitianischen Gesellschaft Wurzeln schenken können.     

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