Sonntag, 25. März 2018

Wieso einfach, wenn es auch kompliziert kompliziert geht?


Aus dem Nähkästchen geplaudert
 Themenreihe zum besseren Verständnis der haitianischen Alltagswelt

11.       Wieso einfach, wenn es auch kompliziert geht? 

Da wir im Bausektor tätig sind, möchte ich an einem Beispiel aus diesem Bereich den alltäglichen Wahnsinn in Haiti etwas näher beleuchten, der sicherlich auch auf andere Bereiche übertragen werden kann. Es sind die Grundstrukturen, die gewisse Arbeitsabläufe  erschweren, behindern oder gar blockieren. 

Durch die verschiedenen Baustellen und den kleinen Baumarkt sind wir regelmäßig mit der Notwendigkeit konfrontiert größere Mengen an Materialien einzukaufen. Auf den Wunsch meines lieben Mannes hin, begleite ich ihn diesmal bei seiner Tour. Gonaives ist zwar viertgrößte Stadt des Landes, doch nach französischem Vorbild sind alle Strukturen zentralisiert in der Hauptstadt Port-au-Prince. Für die einfache Strecke von Gonaives bis zum Eingang von Port-au-Prince fährt man je nach Verkehrsaufkommen 3 bis 3,5 Stunden. Von den ersten Ausläufern der Hauptstadt bis zum Stadtzentrum variiert es zwischen 30 Minuten und 2 Stunden. Die Hauptverkehrsstraßen sind einspurig, in schlechtem Zustand (man weicht tiefen Löchern aus) und durch den öffentlichen Verkehr der Taptaps sowie der privaten Autos völlig überfüllt. Menschen überqueren allerorts die Straßen, Motorräder zwängen sich ihren eigenen Weg hindurch und am Straßenrand tummeln sich allerlei Verkäufer. Alle wichtigen Unis, staatliche Einrichtungen, Ministerien und private Firmen haben ihren Hauptsitz in Port-au-Prince, so dass man zur Rush-Hour nochmal Zeit hinzurechnen sollte. 

Nun steuern wir verschiedene  Baumärkte an. Der Erste liegt in einem 2013 neu angelegten Industriepark mit schönen sauberen Fahrwegen. Beim Eintreten ins Gebäude erfreut sich mein Herz an der gut sortierten Ausstellung der Waren, der Ordnung und der recht vielfältigen Auswahl. Die Chefs sind alle hellhäutig, die Lagerarbeiter ausschließlich dunkelhäutig. Die Bourgeoisie stammt von den ehemaligen Kolonialherren und den arabischen Geschäftsleuten ab, spricht bis heute gestochenes Französisch und hält den Wirtschaftssektor in ihrer Hand. Bilde ich es mir ein oder ist eine gewisse  Arroganz im Umgang mit farbigen Einkäufern wahrzunehmen, während ein Weißer gleich zum Chef eingeladen wird?
 Jedes Produkt ist mit einem Etikett versehen und dem Preis in USD, obwohl die Landeswährung der haitianische Gourde ist. Die Regierung hat vor Jahren ein Gesetz verabschiedet, dass die Auszeichnung der Preise in USD verbietet, um den überhöhten Umtauschkursen der Geschäftsführer einen Riegel vorzuschieben, die dadurch dem Käufer zusätzliche Verluste aufzwängen. Doch es mangelt offensichtlich an der Kontrolle der Umsetzung solch guter Gesetze.                                                                                                                                                                                                                                                       
 Nun beginnt der Marathon: die Auswahl der benötigten Produkte, deren Qualitäts- und Preisvergleich, das Notieren der jeweiligen Etikett Nummern  und die Abarbeitung der Einkaufsliste. Denke an Hollywoodfilme in denen ein kleines Gerät die Etikette für den Hochzeitstisch scannt – welch Erleichterung dies wäre? Mit unseren Notizen sucht Dieufort „seinen“  Verkäufer. Ohne Beziehungen geht nichts in Haiti. Man knüpft und pflegt sie nicht nur mit einem Lächeln und Herzlichkeit, sondern stets auch mit einem offenen Geldbeutel. Service wird nicht gewährt, nur weil man wo angestellt ist. Man ist ev. präsent weil man angestellt ist, doch Arbeiten verrichtet man erst, wenn man Scheine des Kunden in Händen hält. Es gilt manche Fragen zu klären: Ist dieses Produkt in einer gewissen Anzahl auf Lager? Wann kommt eine neue Lieferung falls nicht? Ist es in einer anderen Farbe erhältlich wie ausgestellt? Die Etiketten nennen nur den Einzelpreis, wieviel kostet Menge X? … Unser  Verkäufer gibt all unsere Produkte ein, checkt die Verfügbarkeit im Lager und druckt einen Kostenvoranschlag aus. Nun beginnt die Verhandlung um Rabatt. Jeder Verkäufer hat einen gewissen Rahmen innerhalb dessen er Rabatt geben kann – je nach eigenem Ermessen. Es erscheint willkürlich, da es stets variiert und keine allgemeingültigen Kriterien zu erkennen sind. Wären wir in einer Kundendatei erfasst und als Wiederverkäufer mit xx% Rabatt vermerkt, könnten wir mit dieser Angabe selbst unseren Vorteil ausrechnen und die Entscheidung treffen zu kaufen oder nicht. Planungssicherheit würde den Geist beruhigen. Doch es bleibt wohl bewusst beziehungsabhängig, etwas undurchsichtig und zeitaufwendig. Das Gefühl des Misstrauens schleicht sich ein, was ist wohlwollend, was übervorteilend, was gelogen und was wahr? Lächeln, gemeinsam etwas kühles Trinken und ein paar Witze reißen, dann verabschieden wir uns mit dem gelben Kostenvoranschlagszettel in der Hand und machen uns auf zum nächsten Baumarkt. Preisevergleichen. 10km liegen die beiden Geschäfte auseinander für die man 20 min rechnen würde. Doch der Hauptstadtverkehr vermag es auf 1,5 Stunden zu ziehen. Im schwarzen Auto versagt in der Mittagssonne die Klimaanlage und wir werden in Schweiß gebadet.  Im nächsten, etwas kleineren, Baumarkt beginnt derselbe Ablauf wieder von vorne. Im Vergleich  zum Verkäuferrabatt der uns als so exklusiv und „nur für Dieufort als treuen Freund“ deklariert wurde, sind hier manche Etikettenpreise bereits günstiger. Fühle mich veräppelt. Die Auswahl ist gering und manches was auf unserer Wunschliste steht ist nicht erhältlich. Auch hier pflegen wir Beziehungen und erhalten einen Kostenvoranschlag und Infos zur Verfügbarkeit im Lager. An manchen Tagen geht’s weiter zum dritten Baumarkt, doch dessen Preise hat Dieufort ich vor nicht allzu langer Zeit bereits eingeholt, so dass wir darin heute keinen Vorteil hätten. Bei einer kleinen Mahlzeit gehen wir die Kostenvoranschläge durch und entscheiden uns für die entsprechenden Produkte aus den verschiedenen Baumärkten. Nun müssten wir einen nach dem Anderen wieder abklappern, um den jeweiligen Einkauf zu tätigen. Doch um 16:00 schließen die Baumärkte, so dass wir es nur noch zu Einem schaffen. Kreditkartensysteme sind in dieser Branche noch nicht verbreitet, man bezahlt mit einem Scheck wenn man bereits vertrauenswürdiger Kunde ist, oder als Neukunde in bar. Der höchste Geldschein in Gourde entspricht weniger als 20 EUR. Nun kann man sich die Bündel vorstellen, die man mit sich herumträgt und die an der Kasse zeitaufwendig per Hand gezählt werden müssen. Bezahlt ist noch lange nicht geliefert. Alles läuft etwas langsamer und auch hier spart man Zeit wenn man sich am Lager durch ein Trinkgeld die Aufmerksamkeit der Arbeiter sichert. Eine auch in Deutschland in jedem Restaurant übliche Handlung. Für die Auslieferung ist es bereits zu spät. So rufen  wir unseren Fahrer an, der morgen früh um 5:00 mit dem kleinen Transporter von Gonaives losfahren wird, um die Waren abzuholen. Wenn alles gut klappt können wir dann alle gemeinsam morgen Abend zu Hause sein. Doch nicht selten übernachtet Dieufort mehrere Tage in der Hauptstadt weil nicht alles rund läuft oder eben noch zusätzlich Reifen zu besorgen sind oder etwas anderes zur Reparatur gebracht werden muss oder oder. Eines Tages stand er ungelogen 5 Stunden im Stau an der ein und derselben Stelle. Es konnte niemand erklären was passiert sei. Nicht überall empfiehlt es sich zu übernachten, zudem ist auf einen sicheren Parkplatz fürs Auto zu achten, wobei es zugleich natürlich nicht teuer sein sollte. Mir als Frau sind die Geldbündel und Scheckbücher ein Grund für spezielle Gebete, sowie der Zustand der Straßen und die vielen Unfälle, besonders bei Fahrten in der Dunkelheit ohne Straßenbeleuchtung. An Dieufort nagt der damit verbundene Stress seit sieben Jahren.  

Kompliziert obwohl es einfach gehen könnte?

Eine übersichtliche Internetseite mit den aktuellen Preisen, Angabe der Verfügbarkeit im Lager, nachvollziehbaren Rabattprozenten, sich als Kunde einloggen zu können und von zu Hause aus bereits die Bestellung vornehmen, per Kreditkarte zu bezahlen und nur noch in die Hauptstadt fahren zum Abholen oder gar alles zusammen geliefert zu bekommen – welch ein Traum.    
Ist es „nur“ Mangel an Struktur oder hat es ein System? Auf diese Art und Weise verteidigen die Großhändler ihr Monopol, dem Großteil der Bevölkerung wird  Zugang verweigert und die Beziehungsschiene fördert Korruption. Wer als Wiederverkäufer anständig seine Steuern zahlt und den Mindestarbeitslohn einhält, dem bleibt nicht viel Gewinn für sich übrig. 8-10% Gewinnspanne demotiviert. 
Die Personengruppe, die den Handel in dirigieren durch ihre Einfuhrmonopole und interne Preisabsprachen verteidigen ihre ererbten Rechte gegen initiative junge Unternehmer aus der mittelklassischen Bevölkerungsschicht.  Soziales Handeln kommt nicht vor, so wurden nach Hurrikan Matthew zu unserem Entsetzen sofort jegliche Holz- und Wellblechpreise enorm gesteigert. Anstatt den Landesgenossen zu helfen, profitieren stets die gleichen Kreise recht unverblümt. 

Wir bleiben unseren Zielen treu – auch wenn die Umstände schwierig sind. Es gibt für dieses Land keine anderen Lösungen wie lokale Arbeitsplätze, neue Standards und Partizipation der einfachen Bevölkerung. 

Unsere Haare ergrauen… 
Wir treten für Arbeit der lokalen Handwerker ein.  Doch für diese Ideale zahlt man hier seinen Preis. Das importierte Holz ist teurer als eine fertige Importtür aus Norwegen. Für jede Baustelle muss eine Balance gefunden werden zwischen dem Budget und unseren langfristig  Strukturverändernden Maßstäben.

Dienstag, 20. März 2018

Die Qual der Wahl



Die Qual der Wahl
Artikel aus dem Journal der Lebensmission 1/2018 

Autoren beschreiben manchmal eine Lähmung als Schreibblockade, Künstler nennen es die fehlende Muse. Mein Team hat eine Art „Lähmung“ befallen, die mir als „Qual der Wahl“ erscheint, was im Folgenden erläutert werden soll. 

Tagtäglich stürmen vielfältige Anfragen auf uns Mitarbeiter der Lebensmission ein. Manchen kann man aus eigener Tasche rasch helfen, für andere Nöte braucht es Materialien, längere Beschaffungswege, Kontakte nach außen, einiges verlangt Zeit, Kreativität und Opfer. Vieles entscheidet man aus dem Bauch heraus, in einer Grundhaltung der Großzügigkeit.
„Lasst es euch nicht verdrießen Gutes zu tun“, heißt es in 2.Thessalonicher 3,13. und Sprüche 3,27 bestätigt: „Weigere dich nicht dem Bedürftigen Gutes zu tun, wenn Deine Hand es vermag.“  
Manchmal scheint es keine weltbewegende Handlung zu sein, doch häufig haben unsere Entscheidungen gravierende Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Personen.  Hin zum Guten als Türöffner, oder als eine Blockade wie eine sich verschließende Tür. 

Die eine Familie hat ihr Grundstück noch nicht fertig abbezahlt, eine Andere hat Schwierigkeiten überhaupt legale Grundstückspapiere zu erhalten. Eine Dritte hat gar kein eigenes Grundstück. Die Geschichte der  Vierten kommt uns unschlüssig vor. Die Familie die alle Kriterien erfüllt hat ein Grundstück ohne Zugangswege, was unsere Fahrzeuge frühzeitig altern und  die Mannschaft schimpfen lässt, während sie alle Materialien eigenhändig den bergemporkletternd schleppen müssen- alles Kosten die das Haus um mehr als 1/3 verteuern würde. Manche sammeln schon Steine, begradigen unter Schweißperlen den Felsen, junge Männer graben eine schiefe Grube für eine Latrine. Andere sitzen da und warten ob da Hilfe kommen möge. Wie unterscheidet sich Passivität, Faulheit, Resignation und Hoffnungslosigkeit? Bei wem wird man urteilen, dass er aus eigener Kraft sich etwas aufbauen kann und keine Hilfe von außen nötig hat? Wen will man in seinen Bemühungen unterstützen, da er Motivation beweist aus dem wenig Vorhandenen etwas zu gestalten? Wer hat im Vergleich untereinander ein Haus am meisten „verdient“? Hinken denn nicht all diese Vergleiche, da es in den Slums immer Menschen gibt, die noch ärmlicher hausen und zugleich unzählige Menschen so viel luxuriöser wohnen? Sympathie und Antipathie, Zugang zu Kontakten als Vitamin B,… all das spielt stets mit rein. Selbstverständlich gibt es klare Kriterien, die solche Entscheidungen erleichtern durch eine Grundorientierung. Letztendlich bleibt jedoch immer ein gewisser Interpretationsspielraum. 

Wer bin ich, dass ich mir anmaße über das Leben anderer Personen zu entscheiden? – Eine Frage die mich schon so oft bewegt hat.         

Maßstäbe und Kriterien geben Orientierung. Es muss eine Wahl getroffen werden, da die Mittel begrenzt sind. Dennoch bleibt alles was gegeben werden kann ein Geschenk und damit Gnade.  Mein Schwiegervater erklärte mir mal: „Nur weil ich einer Person Gutes Tue, bedeutet es nicht im Umkehrschluss, dass ich der Anderen Person gegenüber Unrecht tue, nur weil ich ihr nicht das Gleiche gewähre.“ Das Gieskannenprinzip würde einem ganzen Viertel pro Person einen Zementsack schenken anstatt einer einzelnen Familie ein Haus zu bauen.  Dies geht völlig an unserer Projektvision vorbei. Logischerweise muss unser Team also eine Auswahl treffen, welche Familien eine Latrine und ein Spendenhaus erhalten – und damit auch welche nicht. Dies kann überfordernd sein und sogar zu Frustration führen, da man sich hiermit dem Gerede und den Vorwürfen anderer Personen aussetzt. Es könnte dazu führen, Dinge weniger entschlossen anzugehen. Ganz sicher weniger naiv. Gelähmt sein innerhalb dessen, was eigentlich Sinn macht, weil der Fokus sich auf zu vieles verschiebt und Druck entsteht, dem standzuhalten kaum möglich erscheint. Gesunde Intuition, Menschenkenntnis und geistliche Führung sind einer solchen lähmenden „Verkopfung“ entgegenzusetzen. Die entsprechende Prise Selbstbewusstsein nicht zu vergessen, die es ermöglicht manche Entscheidungen auch mit Gefahr auf Gegenwind zu treffen. 

In der Patenschaft ist es eine qualitative Schulbildung mit anschließender Ausbildung. Die Aufnahme im Kinderdorf als Waisenkind beinhaltet nochmal so viel mehr: umfassende medizinische Versorgung, fachliche Betreuungspersonen, kreative Freizeitgestaltung, Aufwachsen in christlicher Kommune etc. Die Nachbarin mit Kopfweh, die um Paracetamol bittet oder die Oma aus der Gemeinde, der wir eine Lesebrille schenken – diese Entscheidungen gehen so viel leichter von der Hand. 

Möge Gott uns Weisheit schenken, in diesen Situationen die richtige Wahl zu treffen. Kein Umstand, so überfordernd er in der Entscheidungsfindung sein mag soll zu Lähmung oder gar Stagnation führen. Gott möge unser Herz weich halten und sensibel machen, um nicht abzustumpfen angesichts der täglichen Nöte und manch aufgedeckter Lüge. 

Mögen wir stets im Blick behalten:
·        -  mit Freude zu geben
·        -  nichts zurückzuhalten und
·        -  uns am Fortschritt Anderer aufrichtig zu freuen