Aus dem Nähkästchen
geplaudert
Themenreihe zum
besseren Verständnis der haitianischen Alltagswelt
11. Wieso einfach, wenn es auch kompliziert
geht?
Da wir im Bausektor tätig sind, möchte ich an einem Beispiel
aus diesem Bereich den alltäglichen Wahnsinn in Haiti etwas näher beleuchten,
der sicherlich auch auf andere Bereiche übertragen werden kann. Es sind die
Grundstrukturen, die gewisse Arbeitsabläufe
erschweren, behindern oder gar blockieren.
Durch die verschiedenen Baustellen und den kleinen Baumarkt sind
wir regelmäßig mit der Notwendigkeit konfrontiert größere Mengen an Materialien
einzukaufen. Auf den Wunsch meines lieben Mannes hin, begleite ich ihn diesmal
bei seiner Tour. Gonaives ist zwar viertgrößte Stadt des Landes, doch nach
französischem Vorbild sind alle Strukturen zentralisiert in der Hauptstadt
Port-au-Prince. Für die einfache Strecke von Gonaives bis zum Eingang von Port-au-Prince
fährt man je nach Verkehrsaufkommen 3 bis 3,5 Stunden. Von den ersten
Ausläufern der Hauptstadt bis zum Stadtzentrum variiert es zwischen 30 Minuten
und 2 Stunden. Die Hauptverkehrsstraßen sind einspurig, in schlechtem Zustand
(man weicht tiefen Löchern aus) und durch den öffentlichen Verkehr der Taptaps
sowie der privaten Autos völlig überfüllt. Menschen überqueren allerorts die
Straßen, Motorräder zwängen sich ihren eigenen Weg hindurch und am Straßenrand
tummeln sich allerlei Verkäufer. Alle wichtigen Unis, staatliche Einrichtungen,
Ministerien und private Firmen haben ihren Hauptsitz in Port-au-Prince, so dass
man zur Rush-Hour nochmal Zeit hinzurechnen sollte.
Nun steuern wir verschiedene
Baumärkte an. Der Erste liegt in einem 2013 neu angelegten Industriepark
mit schönen sauberen Fahrwegen. Beim Eintreten ins Gebäude erfreut sich mein
Herz an der gut sortierten Ausstellung der Waren, der Ordnung und der recht
vielfältigen Auswahl. Die Chefs sind alle hellhäutig, die Lagerarbeiter
ausschließlich dunkelhäutig. Die Bourgeoisie stammt von den ehemaligen Kolonialherren
und den arabischen Geschäftsleuten ab, spricht bis heute gestochenes
Französisch und hält den Wirtschaftssektor in ihrer Hand. Bilde ich es mir ein
oder ist eine gewisse Arroganz im Umgang
mit farbigen Einkäufern wahrzunehmen, während ein Weißer gleich zum Chef eingeladen
wird?
Jedes Produkt ist mit einem Etikett versehen und dem Preis
in USD, obwohl die Landeswährung der haitianische Gourde ist. Die Regierung hat
vor Jahren ein Gesetz verabschiedet, dass die Auszeichnung der Preise in USD
verbietet, um den überhöhten Umtauschkursen der Geschäftsführer einen Riegel
vorzuschieben, die dadurch dem Käufer zusätzliche Verluste aufzwängen. Doch es
mangelt offensichtlich an der Kontrolle der Umsetzung solch guter Gesetze.
Nun beginnt der Marathon: die Auswahl der benötigten
Produkte, deren Qualitäts- und Preisvergleich, das Notieren der jeweiligen
Etikett Nummern und die Abarbeitung der
Einkaufsliste. Denke an Hollywoodfilme in denen ein kleines Gerät die Etikette
für den Hochzeitstisch scannt – welch Erleichterung dies wäre? Mit unseren
Notizen sucht Dieufort „seinen“ Verkäufer. Ohne Beziehungen geht nichts in
Haiti. Man knüpft und pflegt sie nicht nur mit einem Lächeln und Herzlichkeit,
sondern stets auch mit einem offenen Geldbeutel. Service wird nicht gewährt,
nur weil man wo angestellt ist. Man ist ev. präsent weil man angestellt ist,
doch Arbeiten verrichtet man erst, wenn man Scheine des Kunden in Händen hält.
Es gilt manche Fragen zu klären: Ist dieses Produkt in einer gewissen Anzahl
auf Lager? Wann kommt eine neue Lieferung falls nicht? Ist es in einer anderen
Farbe erhältlich wie ausgestellt? Die Etiketten nennen nur den Einzelpreis,
wieviel kostet Menge X? … Unser Verkäufer gibt all unsere Produkte ein, checkt
die Verfügbarkeit im Lager und druckt einen Kostenvoranschlag aus. Nun beginnt
die Verhandlung um Rabatt. Jeder Verkäufer hat einen gewissen Rahmen innerhalb
dessen er Rabatt geben kann – je nach eigenem Ermessen. Es erscheint
willkürlich, da es stets variiert und keine allgemeingültigen Kriterien zu
erkennen sind. Wären wir in einer Kundendatei erfasst und als Wiederverkäufer
mit xx% Rabatt vermerkt, könnten wir mit dieser Angabe selbst unseren Vorteil
ausrechnen und die Entscheidung treffen zu kaufen oder nicht. Planungssicherheit
würde den Geist beruhigen. Doch es bleibt wohl bewusst beziehungsabhängig,
etwas undurchsichtig und zeitaufwendig. Das Gefühl des Misstrauens schleicht
sich ein, was ist wohlwollend, was übervorteilend, was gelogen und was wahr?
Lächeln, gemeinsam etwas kühles Trinken und ein paar Witze reißen, dann verabschieden
wir uns mit dem gelben Kostenvoranschlagszettel in der Hand und machen uns auf
zum nächsten Baumarkt. Preisevergleichen. 10km liegen die beiden Geschäfte
auseinander für die man 20 min rechnen würde. Doch der Hauptstadtverkehr vermag
es auf 1,5 Stunden zu ziehen. Im schwarzen Auto versagt in der Mittagssonne die
Klimaanlage und wir werden in Schweiß gebadet.
Im nächsten, etwas kleineren, Baumarkt beginnt derselbe Ablauf wieder
von vorne. Im Vergleich zum
Verkäuferrabatt der uns als so exklusiv und „nur für Dieufort als treuen
Freund“ deklariert wurde, sind hier manche Etikettenpreise bereits günstiger. Fühle
mich veräppelt. Die Auswahl ist gering und manches was auf unserer Wunschliste steht
ist nicht erhältlich. Auch hier pflegen wir Beziehungen und erhalten einen
Kostenvoranschlag und Infos zur Verfügbarkeit im Lager. An manchen Tagen geht’s
weiter zum dritten Baumarkt, doch dessen Preise hat Dieufort ich vor nicht
allzu langer Zeit bereits eingeholt, so dass wir darin heute keinen Vorteil hätten.
Bei einer kleinen Mahlzeit gehen wir die Kostenvoranschläge durch und
entscheiden uns für die entsprechenden Produkte aus den verschiedenen
Baumärkten. Nun müssten wir einen nach dem Anderen wieder abklappern, um den
jeweiligen Einkauf zu tätigen. Doch um 16:00 schließen die Baumärkte, so dass
wir es nur noch zu Einem schaffen. Kreditkartensysteme sind in dieser Branche
noch nicht verbreitet, man bezahlt mit einem Scheck wenn man bereits
vertrauenswürdiger Kunde ist, oder als Neukunde in bar. Der höchste Geldschein
in Gourde entspricht weniger als 20 EUR. Nun kann man sich die Bündel
vorstellen, die man mit sich herumträgt und die an der Kasse zeitaufwendig per
Hand gezählt werden müssen. Bezahlt ist noch lange nicht geliefert. Alles läuft
etwas langsamer und auch hier spart man Zeit wenn man sich am Lager durch ein
Trinkgeld die Aufmerksamkeit der Arbeiter sichert. Eine auch in Deutschland in
jedem Restaurant übliche Handlung. Für die Auslieferung ist es bereits zu spät.
So rufen wir unseren Fahrer an, der
morgen früh um 5:00 mit dem kleinen Transporter von Gonaives losfahren wird, um
die Waren abzuholen. Wenn alles gut klappt können wir dann alle gemeinsam
morgen Abend zu Hause sein. Doch nicht selten übernachtet Dieufort mehrere Tage
in der Hauptstadt weil nicht alles rund läuft oder eben noch zusätzlich Reifen
zu besorgen sind oder etwas anderes zur Reparatur gebracht werden muss oder
oder. Eines Tages stand er ungelogen 5 Stunden im Stau an der ein und derselben
Stelle. Es konnte niemand erklären was passiert sei. Nicht überall empfiehlt es
sich zu übernachten, zudem ist auf einen sicheren Parkplatz fürs Auto zu
achten, wobei es zugleich natürlich nicht teuer sein sollte. Mir als Frau sind
die Geldbündel und Scheckbücher ein Grund für spezielle Gebete, sowie der
Zustand der Straßen und die vielen Unfälle, besonders bei Fahrten in der
Dunkelheit ohne Straßenbeleuchtung. An Dieufort nagt der damit verbundene Stress
seit sieben Jahren.
Kompliziert obwohl es
einfach gehen könnte?
Eine übersichtliche Internetseite mit den aktuellen Preisen,
Angabe der Verfügbarkeit im Lager, nachvollziehbaren Rabattprozenten, sich als
Kunde einloggen zu können und von zu Hause aus bereits die Bestellung
vornehmen, per Kreditkarte zu bezahlen und nur noch in die Hauptstadt fahren
zum Abholen oder gar alles zusammen geliefert zu bekommen – welch ein
Traum.
Ist es „nur“ Mangel an Struktur oder hat es ein System? Auf
diese Art und Weise verteidigen die Großhändler ihr Monopol, dem Großteil der
Bevölkerung wird Zugang verweigert und
die Beziehungsschiene fördert Korruption. Wer als Wiederverkäufer anständig
seine Steuern zahlt und den Mindestarbeitslohn einhält, dem bleibt nicht viel
Gewinn für sich übrig. 8-10% Gewinnspanne demotiviert.
Die Personengruppe, die den Handel in dirigieren durch ihre Einfuhrmonopole
und interne Preisabsprachen verteidigen ihre ererbten Rechte gegen initiative
junge Unternehmer aus der mittelklassischen Bevölkerungsschicht. Soziales Handeln kommt nicht vor, so wurden
nach Hurrikan Matthew zu unserem Entsetzen sofort jegliche Holz- und
Wellblechpreise enorm gesteigert. Anstatt den Landesgenossen zu helfen,
profitieren stets die gleichen Kreise recht unverblümt.
Wir bleiben unseren
Zielen treu – auch wenn die Umstände schwierig sind. Es gibt für dieses Land
keine anderen Lösungen wie lokale Arbeitsplätze, neue Standards und
Partizipation der einfachen Bevölkerung.
Unsere Haare ergrauen…
Wir treten für Arbeit der lokalen Handwerker ein. Doch für diese Ideale zahlt man hier seinen
Preis. Das importierte Holz ist teurer als eine fertige Importtür aus Norwegen.
Für jede Baustelle muss eine Balance gefunden werden zwischen dem Budget und
unseren langfristig Strukturverändernden
Maßstäben.
Liebe Fam. Wittmer;geschätztes Habitat-Team!
AntwortenLöschenauch im noblen,geordneten Germany regiert der "Bauwahnsinn".Ich arbeite auch in dem Bausektor/Baubehörde und stelle oft fest, dass wir fast ersticken vor unseren oft überzogenen Bauvorschriften.
Für jede Baustelle sind viele Gutachten von Sachverständigen einzuholen;das verzögert und macht die Baustelle teuer!
So können Normalverdienende sich kein Eigenheim leisten, falls kein Baugrundstück vorhanden ist.An die Baumaterialien kommen wir gut ran; die zahlreichen Baumärkte u.Fachhändler sind gut bestückt-aber es gibt zu wenig Handwerker. Die Schulabgänger gehen lieber auf die UNI oder in die IT-Branche,da das Handwerk unbequem ist.Somit braucht es viel Gedult, bis die teuren Bauarbeiter überhaupt kommen.Da nützt auch kein "Schmiergeld" !
Es freut mich, dass ihr der Korruption die Stirn bietet, soweit möglich. Den lokalen Menschen Arbeit geben und anständig bezahlen ,damit sie stolz ihre Familie(Sippe) ernähren können ist eine edle Aufgabe.Es ist besser, als das Volk daran zu gewöhnen, die Hand auf-bzw.unterzuhalten.
Auch in Deutschland gibt es viele, denen die relativ hohe Sozialhilfezahlung ausreicht.Jeden Morgen früh raus,arbeiten für etwas mehr Geld ist für viele keine Motivation.
Ich mache euch Mut,das komplizierte System in Haiti zu ertragen;ihr seid auf dem richtigen Weg !!auch wenn mal eine Entscheidung nicht optimal gelaufen ist.Wünsche gutes Gelingen und stets unfallfreies Arbeiten! rudolph