Freitag, 8. Juni 2018

EXTRA-ordinär Auszug aus dem Heft der Lebensmission


Welch ein schöner Wortlaut der französischen Sprache. Im Deutschen bedeutet ordinär „gewöhnlich“ und wird umgangssprachlich für etwas Einfaches verwendet. Durch die Vorsilbe „extra“ bekommt dieses Wort im Französischen die Gegenteilige Bedeutung, über welche ich gerne ein bisschen nachsinnen möchte.

Gewöhnliches wird als normal empfunden, fällt uns in unserer Umgebung kaum auf. Gewohnheiten vermitteln uns Sicherheit, nicht nur als Einzelperson, sondern auch eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe bis hin zu einer Kultur.

Was bedeutet dieses „Extra“ in meinem konkreten Lebensalltag? Ist es ein Sahnehäubchen, das ich als „Extra“  zu dem mir wohlvertrauten Gewöhnlichen hinzufügen kann? Also ein ganz normales Leben führen und dann in vereinzelten Momenten etwas besonders Gutes tun? Ist es das, was aus gewöhnlich außergewöhnlich macht? Was meint Jesus damit, wenn er sagt, wir sollen eine zweite Meile *mitgehen, also einen „Extra“- Weg einberechnen?
Das Unerwartete Tun. Staunen, Verwunderung und Neugierde bei meinem Gegenüber wecken. Raus aus dem gewohnten Trott. Anders sein. Unerwartet sein? Eine Extra-ordinäre, auffallende Identität haben?
Was bedeutet es, Licht und Salz* in einer dunklen, faden Welt zu sein? Das geht wohl tiefer als ein Sahnehäubchen, denn es setzt an meiner Wurzel an anstatt mir lediglich ein Häubchen auf den Kopf zu drapieren. Es betrifft mein gesamtes Sein, ein Durchdrungen sein – aber von was? Von Alltagstrott, Eingefahrenheit und Gewöhnlichkeit? Oder doch von einem kleinen Funken des Ausgefallenem, Auffallendem, Ungewöhnlichem?
Ich wünsche uns, dass wir diese Fragen nicht leichtfertig überlesen, sondern möchte uns dazu ermutigen, ihr nachzuspüren, sie in uns zu bewegen, vor Gott zu bringen.  Nicht als philosophisches Theorie-Schmuckstück, sondern als Atem mitten in unserem alltäglichen Lebensstil der kunterbunt Leben einhaucht und uns (und andere) in Staunen versetzt. Sind staunende, extra-ordinäre Momente nicht ehrfürchtig, anbetend?
Mitten in Haiti, mit meinem kleinen Leben in Gonaives… wie nur kann ich hier Licht und Salz sein?
Haitis Geschichte trieft von Gewalt und Ungerechtigkeit  durch Sklaverei und Kolonialismus. Diese Themen ziehen sich bis heute als recht gewöhnlich durch die Kultur. Viele Praktiken der Sklavenaufseher sind noch üblich, sei es in Familien Schulen oder auch in Kirchen. Sie fallen so manchem Einheimischen nicht auf, sind  Normalität. Ebenso wie Korruption, Ausschluss der Bevölkerungsmehrheit von Grundrechten etc.
Extra-ordinäres  Verhalten scheint mir hier die Übertragung von Rechten und demütiges Dienen zu sein. Besonders als Weiße. Als Institution.
Konkrete, außerordentliche Schritte die wir als Lebensmission gehen sind:
-        -    Zugang zu Bildung für Familien, die sich aus eigenen Möglichkeiten keine Schulbildung leisten können. Als Basis einer Gesellschaft Kindern Lesen und Schreiben, aber auch eine qualitative Berufsausbildung  anbieten. Um eine bettelnde Zukunft zu vermeiden und Wege zu öffnen für eine neue Generation die Gesellschaftsverändernd wirken möge.
-      -     Partizipation (=Teilhabe+Mitsprache) ermöglichen, in wöchentlichen Mitarbeitertreffen, bei denen sich alle offen äußern können und gemeinsame Anliegen besprochen werden. Teilhabe schon mit jungen Jahren durch unseren „runden Tisch“ bei dem die Kinderdorfkinder, Mütter und die Kinderdorfleitung Themen einbringen, gemeinsam abstimmen. Hausabende bei denen Erziehende lernen ihre Zöglinge partizipieren zu lassen und gemeinsam um einen Tisch zu sitzen. Gleichwertigkeit trotz der nicht vorhandenen Gleichartigkeit. Diese demokratischen Formen sind in einem diktatorischen Land wie Haiti definitiv außergewöhnlich. Doch es greift tiefer als regelmäßige Treffen, denn die Fähigkeit zur Meinungsbildung und –Äußerung, das Erleben  von Konsequenzen gewisser getroffener Entscheidungen etc. will zunächst gelernt sein. Im gewöhnlichen Schulsystem stellt man keine Fragen oder diskutiert über Sachverhalte. Es wird stur auswendig gelernt was der Lehrer sagt. Initiative ist auch am Arbeitsplatzgewöhnlich unerwünscht. Gehorsam wird meist mehr belohnt.  
-     -      Wissensvermittlung durch kostenlose Seminare. Schulungen für alle Altersgruppen. Mehr als Extra-ordinär in einer Gesellschaft, in der jeder seinen Platz und vor allem sein Wissen verteidigt. Geistlicher Erbe ist normalerweise nur ein Kind (von durchschnittlich 7) und dieser erhält das Wissen oder die Übertragung der Geister (Heilung, Wahrsage, Ahnengeister)erst auf dem Sterbebett. Selbst ein Rezept wollte mir eine Köchin nicht rausgeben, eine andere warf mir eines Tages vor immer erst dann Kuchen zu backen, wenn sie schon gegangen sei, damit sie nicht erfahren könne wie ich es mache. Klingt in meinen Ohren lustig, doch es ist ein gewöhnliches Beispiel.
-          Übernahme von Verantwortung, Freiraum sich zu entscheiden und sich zu entfalten . Wir muten es den 19jährigen zu, ihren Berufsweg selbst auszuwählen und Informationen bei den jeweiligen Institutionen einzuholen. Es erstaunt mich zu erleben, dass Einzelne diese Freiheit  bzw. Verantwortung ablehnen und deswegen die Unterstützung verlieren. Raus aus der Opfermentalität, der Abhängigkeit der Willkür Anderer. Sein Leben selbst in die Hand nehmen und das Beste draus machen. Seine Rechte einfordern und offene Türen nutzen.
-  -         Allgemeingültige Kriterien und Regeln statt Willkür und ungerechte Bevorzugung. Jeder der ans Tor klopft darf eintreten, hat Zugang zu allgemeinen Informationen (keine Uni gibt ein Infoblatt kostenlos raus über ihr Studienangebot), ohne den Mitarbeiter erst dafür bezahlen zu müssen. Zugang sogar zu den Leitern und ein anerkanntes Beschwerderecht- ein echtes Sahnehäubchen.  Wie oft versuchen hier Menschen über Beziehungen an gewisse Vorteile ranzukommen – mir als Deutsche ist das unangenehm und ich verweise sie n den zuständigen haitianischen Mitarbeiter. Doch ich lehne damit zugleich auch eine Einnahmequelle ab. Für eine Stellenvermittlung ist es üblich das erste komplette Gehalt zu bekommen. Bei der Vermittlung von regelmäßigen Einnahmen (wie Patenschaft) wäre es kulturell auch denkbar monatlich einen gewissen Teilbetrag zu erhalten. Übertragung von Rechten bedeutet somit auch gewisse Dinge zu entpersonalisieren. Nicht jemandem zu geben, weil er mir sympathisch ist, sondern weil er ein Mensch ist – wie Du und ich. Nicht weil er mir dann XX schuldet, sondern weil es ihm zusteht. Mich mit meinem Gegenüber zu freuen anstatt von dem Seinen Profitieren zu wollen. Kein Groll zu empfinden, wenn eine bedürftige Familie ein Haus gespendet bekommt, während ich als Mitarbeiter kein eigenes habe – nur weil ich weniger bedürftig bin. Sich der Gnade bewusst sein, die beschenkt – sie ist uns allen gegeben und es ist nicht an mir auf das jeweilige Maß neidisch zu blicken.       
-     -      Die jährlichen Evaluationen der Mitarbeiter nehmen unglaublich viel Zeit und Energie in Anspruch. Sie gehören aber auch dem EXTRA an wie: klare Stellenbeschreibungen, feste Arbeitszeiten, faire Evaluationen nach der individuellen Arbeitsleistung sind auf staatlichen Stellen offensichtlich nicht vorhanden. Ebenso ein regelmäßig pünktlich ausbezahltes Gehalt, saubere Toiletten, ein Arbeitsplatz im Grünen, ein kostenloses ausgewogenes Mittagessen, Trinkwasser für die Familie, Hilfe bei Todesfällen in der direkten Linie  u.a.mehr. 
-   -        Transparente Buchhaltung ist absolut außergewöhnlich in Haiti. Zweckgebundene Ausgaben, die von den Empfängern direkt unterzeichnet werden (meist mit Daumenabdruck, da viele nicht schreiben können) ohne dass ein Vermittler sich Durchreichgeld nimmt, Dankesbriefe in denen die erhaltenen Summen offen genannt werden dürfen. Zugang zum Chef bei Beschwerden oder Misstrauen zur Überprüfung des jeweiligen Spendenbetrages. Jährliche Kassenkontrollen von außen,… Weil es so gewöhnlich ist, werden manche üblichen Handhabungen gar nicht Korruption genannt. Auch unter Christen staunt man was da so üblich ist. Außergewöhnlich zu sein, bedeutet sich hier auch abzugrenzen, unbequem sein, weil man aus der Masse heraustritt, wortlos Dinge offenbart. Was gab es Probleme, als eine Köchin vom Markt so viel mehr mit heimgebracht hatte als all die anderen gewöhnlich. Beim gleichen verfügbaren Geldbetrag. Ein wortloses Anklagen, offensichtlich werden von schlechter Gewohnheiten der Mehrheit der anderen Köchinnen.  Dieses EXTRA ist oft auch eine zusätzliche Portion ausgeschlossen sein, gestraft werden für Gerechtes und integres Handeln.  Salz ist in jedem Essen eine Minderheit im Vergleich zu allen anderen Zutaten. Doch es hat große Wirkung. Dafür darf es aber nicht im Salzstreuer bleiben.  
-    -       Verschiedene Kulturen leben und arbeiten gemeinsam, was nicht anders kann als alle Horizonte zu erweitern. Ökumene wird im Alltag gelebt.   

Anders sein. Unerwartet. Überraschend. EXTRA-ordinär. Die Person, die all dies in sich am allermeisten in sich vereinbarte ist Jesus Christus. Mit all den Konsequenzen die das mit sich bringt. Auch wir wollen offen sein für Gottes Handeln in seiner ureigenen ungewöhnlichen Form, die uns in Staunen versetzt. Er sprengt Kategorien, Gewohnheiten, lässt sich nicht klein einsperren in das was wir Normalität nennen.
Seinem Modell folgen. Mutig. Heraustreten und EXTRA-ordinär leben. Mehr als ein Sahnehäubchen.
Nach pragmatischen Wegen suchen, sie Schritt für Schritt gehen. Hinfallen, wieder aufstehen. Seine Hand ergreifen und weitergehen.
Nicht weil wir so gut sind, sondern weil uns eine Generation anvertraut ist und wir Zuversicht haben, dass wir in unserem EXTRA nachgeahmt werden und Einfluss in dieser Gesellschaft gewinnen. Nicht durch Anklage und Besserwisserei, sondern durch Hinwendung, Dienen in Gerechtigkeit. Um nicht etwas für unser Leben zu verändern, sondern für Andere einen Weg zu bahnen, ihnen Licht und Salz zu sein.
Neugierig geworden auf ein Bereitschaft für ein gewisses Extra – ganz gleich wie dieses aussehen mag in Deinem Leben?

   

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