Freitag, 11. September 2015

Aus dem Nähkästchen geplaudert – Einblick in bunte Welten



Was mir als erstes zur haitianischen Kultur in den Sinn kommt, ist die Gastfreundschaft. Allezeit wird man herzlich willkommen geheißen, dem Gast wird das Beste gegeben: hat man keine Stühle, leiht man sich schnell welche vom Nachbarn, um dem Gast eine Sitzgelegenheit zu bieten. Das einzige Bett wird einem bereitet, die einzige Lampe daneben gestellt; man traut sich gar nicht zu fragen, wo denn nun die Familie schlafen wird – bis man dann am nächsten Morgen feststellt, dass die Meisten unter freiem Himmel genächtigt haben, damit uns Gästen eine angenehme Nacht möglich war. Eines Tages besuchten wir eine Familie, die bereits zum dritten Mal ihr Haus verloren hatte, zweimal durch Fluten und das letzte Mal beim Erdbeben. Sie lebten in einem Wellblechverschlag, 1m auf 2 m, daneben nochmal ein gleichförmiger Verschlag für die Familie des Onkels. Da wir uns angekündigt hatten, wartete zwischen den Baracken eine kleine hübsch bunte Sitzmauer auf uns, die aus losen gesammelten Blocksteinen gemauert und mit einer schönen Decke überzogen war. Sogar ein kleiner Tisch wurde aus Holzabfallplatten gerichtet: diese Bemühungen, es einem Gast so angenehm wie nur irgend möglich zu machen – egal wie miserabel die eigene Situation ist, berührt mein Herz. (2012 haben wir für diese zuletzt genannte Familie ein Spendenhaus in Grand Goave bauen dürfen). 

Natürlich schlüpfen auch wir immer wieder in die Rolle des Gastgebers (wir Pfälzer sind bekanntlich gut darin). So sprach ich eines Tages ich mit aufrichtigem Herzen zu einer 60jährigen, die bereits damals schon mit meinen Schwiegereltern befreundet gewesen ist, dass sie willkommen sei in unserem Haus und sich –wie man so schön auf Deutsch zu sagen pflegt- wie zu Hause fühlen soll. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass dies eine Wohndauer von 3 Monaten zu Folge hat J (sie war in Begleitung einer psychisch kranken jungen Frau, die dauerhaft Betreuung brauchte). Ohne Hintergedanken sprach ich meine Worte, aufrichtig, aber ausgehend von meinem eigenen kulturellen Verständnis  - sie hörte zu und verstand es durch die Brille ihrer haitianischen Kultur, die ihr auch 3 Jahre Wohnrecht gewährt hätte. 

In Deutschland kommt man nicht zur Essenszeit zu Besuch, das stört, dringt in die Privatsphäre ein,… In Haiti kommt man extra zur Essenszeit zu Besuch, um etwas abzubekommen – und tatsächlich, jeder, der da ist, bekommt einen Anteil. Ganz gleich, für wie viele gekocht wurde. Der Hausherr erhält die erste Portion, selbstverständlich die Größte. Anschließend wird das, was man hat aufgeteilt auf alle Münder. Da die Küche nicht versteckt im Haus ist, sondern alle Aktivitäten draußen stattfinden und die gesamte Nachbarschaft es mitbekommt, wenn man das Feuer zündet, finden sich im Grunde immer zusätzliche Esser ein. Für arme Familien mag das in diesem Moment hart sein, zu teilen, doch sie wissen: wenn ich morgen nichts habe, dann darf ich genauso zu dieser Person gehen und sie wird wiederum mit mir teilen. Ein sozialer Vertrag der Solidarität. Teilen ist einer der großen Grundwerte. Schon ein Kleinkind lernt, alles zu teilen. Hat es ein einziges Bonbon, so wird es in viele kleine Stückchen zerbissen, damit jeder aus der Familie bzw. alle Anwesenden ein Eckchen abbekommen. An einem Lutscher, lutscht jeder mal drüber. Erwachsene fragen immer, sobald ein Kind etwas isst, ob es davon ein bisschen „ti kal“ abbekommt. Gibt das Kind bereitwillig, bedankt sich der Erwachsene zufrieden und lässt dem Kind seinen Genuss, zögert das Kind oder weigert es sich, so wird es mit einem sehr schlimmen Wort beschimpft „chich“ (geizig). Mir würde sowas nicht im Traum einfallen, von anderen Lutschern ein Stückchen einzufordern – im Gegenteil, ich habe zu viele Gesundheitsschulungen hinter mir, als dass ich diese Teilerei von Bakterien genießen könnte. Auf die Frage hin, was man NICHT teilen würde, überlegen meine befragten Haitianer sehr, sehr lange: „Meine Zahnbürste möchte ich nur ungern teilen.“ „Wenn es möglich ist, dann hätte ich gerne mein Bett für mich alleine.“ „Meine Partnerin/ meinen Partner möchte ich nicht teilen.“ Meine Liste wäre in Sekundenschnelle parat und hätte Klopapierlänge. – Das gibt mir zu denken. Egoismus, Abgrenzung, individuelle Erfüllung, sind uns genauso selbstverständlich, wie die Themen Privatsphäre und Intimbereich. Im Kinderdorf der Lebensmission hat jedes Kind sein eigenes Bett. Wenn ich so drüber nachdenke, dann ist es wohl auch das Einzige, was es wirklich für sich als privater Raum hat. Auf all meinen vielen Patenschaftsbesuchen der Familien außerhalb habe ich kein Kind erlebt, das ein Bett für sich alleine hat. Bei besser gestellten Familien kommt das vor, doch sie bleiben die Ausnahme. Es ist generell bekannt, dass wir Deutschen eine größere Intimzone brauchen, um uns wohl zu fühlen. Verschiedenen Persönlichkeitstest zu Grunde bin ich ein eigenständiger, tendenziell distanzierter Typ; legen wir also nochmal ein paar cm hinzu. Mein Körperkontaktbedarf wird allein bei einer Autofahrt mit 7 Personen und einem Kleinkind auf dem Schoß in einem Pickup von Gonaives nach Port-au-Prince (einfache Fahrt ca. 3 Std.) gefühlsmäßig für einen Monat lang gedeckt. In den bunten TapTaps, in die 10-16 Menschen einsteigen (auf der Ladefläche eines Pickups), ist man nicht Kontaktscheu: sind die Sitzplätze belegt, setzt man sich auf den Schoß der fremden „Blan“ (Weißen), oder vor ihr in die Hocke auf den Mittelgang, während man ihre Beine mit den verschwitzten Armen umschlingt, um bei der Fahrt nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Meine Erstgeborene ist ein Septemberkind, so dass ich mich viel damit beschäftigt habe sie im warmen Bad nackt zu massieren, damit sie den nötigen Körperkontakt erhält, der durch die viele Winterkleidung verhindert wird. Hier kann sich kein Baby über zu wenig direkten Körperkontakt beschweren. Die Sozialisierung scheint dadurch sehr erfolgreich. Doch auch von kuscheligen Typen wird Haiti als grenzwertig empfunden. 

Der Haitianer grenzt sich innerlich ab, wo es äußerlich nicht möglich ist; es entsteht eine besondere gegenseitige Toleranz. Dass man gemeinsam über Jahre hinweg zusammen gewohnt hat, lässt nicht auf die Enge der Beziehung zueinander schließen – was mich wiederum erstaunt. Es gibt eine innere Privatsphäre, die nicht angerührt wird. Über eigene Gefühle spricht man nicht. Das Leben geht weiter und man hat sich nicht zu beklagen – angesichts der vielen widerkehrenden Katastrophen keine schlechte Überlebensstrategie. Als Sozialpädagogin und  Seelsorgerin zögere ich neuerdings, wirklich nachzufragen, wie es dem Einzelnen geht. Kann ich all das erfahrene Leid auffangen? Habe ich eine Lösung zu bieten? Gibt es Trost? Gibt es Heilung? Hier teilt sich die Welt für mich klar: nein, ich kann das Leid nicht auffangen, es zerbricht mich allein beim Zuhören. Doch ich kenne einen Gott, der Weg, Wahrheit und das Leben ist, der Zerbrochenes heilt und in der größten Dunkelheit das Licht ist. Es war mir lange unverständlich, wieso so wenig gesprochen wird. Wieso es scheinbar so oberflächlich abläuft. Wieso Beziehungen so sind, wie sie mir erscheinen. Doch nach mehreren Jahren wächst hier mehr und mehr Respekt vor der wahren Größe des haitianischen Volkes, sich tagtäglich immer und immer wieder durch so viel widrige Umstände zu wurschteln und die Lebensfreude nicht zu verlieren – es öffnet mir die Augen für unsere europäische Oberflächlichkeit, unser Sicherheitsstreben, unser Therapieboom aufgrund unserer Freudlosigkeit. Wann hat Dein Leben einen Wert? Was braucht der Mensch überhaupt zum Leben? Was gibt Sinn? Was macht glücklich? – grundlegende Fragen werden hier aufgeworfen und die Antwort fällt in verschiedenen Ländern so unterschiedlich aus. 

Die Körperkultur ist gewöhnungsbedürftig. Mangels Badezimmer in den Häusern, duscht man im Hof bestenfalls hinter einem kleinen Wellblechverschlag. Oft aber auch an einem öffentlichen Brunnen, im Fluss oder an einem Kanal. Die Unterhosen behält man an, der Oberkörper bleibt frei. Die weibliche Brust ist keine Tabuzone. Als Sexuell aufreizend hingegen wird der Hintern und die Oberschenkel betrachtet. Mangels sanitärer Anlagen pinkelt jedermann am Straßenrand, an jeder Hausmauer mit freigiebigem Blick auf seine Genitalien; Frauen bücken sich kurz mal mitten auf dem Markt, durch ihre langen Röcke sieht man nichts als das davonrinnende Bächlein. In einem Zimmer leben ca. 5 Menschen beisammen, so boomen die Stundenhotels. Bei der Erkundung verschiedener Preise für einen Besucher wurde meinem Mann und mir in einem renommierten Hotel  sogleich ganz selbstverständlich der Stundenpreis genannt. Unsere Vision als Habitat-HT neue Standards zu setzen bestätigt sich: Häuser mit Toilette und Duschkabine, sowie separierten Schlafzimmern zu bauen. 

„Haiti hat 2 Prinzipien: Familie und Nachbarschaft!“, erklärte mir in meinen ersten Monaten unser Sekretär.  Familie ist der größte Schutzrahmen, den man in Haiti hat. Es gibt keine Versicherungen. Alle Onkels legen zusammen, um das Studium des ältesten Neffen zu finanzieren. Wird etwas aus ihm, so wird er später die nächste Generation der Cousins und Cousinen versorgen. Es ist ein Generationenvertrag. Es gibt fast keine einsamen alten Menschen, keine Behindertenheime, keine Krankenstation für kranke Kinder mit Komplettversorgung. Man bleibt in die Familie integriert. Mit allen positiven und negativen Konsequenzen. Schlüsselkinder gibt es in dem Sinne nicht, es ist eigentlich immer jemand zu Hause oder in der Nachbarschaft, da die Großfamilie tatsächlich groß ist. Stabile Bezugspersonen sind in der Regel gegeben. So spricht aber auch jeder jedem in die Erziehung, Haushaltsführung, Ehe  ect. hinein. Autonomie setzt sich eher unter Wohlverdienenden durch. Alte Gewohnheiten sind schwerer abzuschütteln, da man dem Älteren nicht widersprechen darf. Auch die finanzielle Solidarität führt oft zu heftigen Konflikten zwischen den Partnern, da man eh wenig für die eigenen Kinder zur Verfügung hat und dann noch einen hohen Anteil an die Großfamilie abgeben soll. Die Rollenverteilung ist konservativer: die Frau hat meist ein niedrigeres Bildungsniveau und ist vom Mann abhängig. So kann nicht das gesamte Potential einer gleichwertigen Partnerschaft ausgeschöpft werden. Die Geschäftswelt wird von Männern bestimmt. Partnerschaftliche Verhältnisse sind hier wohl so wie vor 100 Jahren in Europa. Durch die Arbeitslosigkeit kann der materielle Grundbedarf der Familie nur gering gedeckt werden. Es ist erschreckend hautnah mitzuerleben, wie die meisten Familien unter dem Mindestniveau mehr schlecht als recht überleben. Ohne den familiären Zusammenhalt, wäre es sicherlich noch schlimmer. Staatliche Fürsorge existiert in unserem Sinne nicht. Im Krankenhaus braucht es eine Angehörige, die den Kranken wäscht, versorgt, eigens gekochtes Essen gibt, etc. Spritzen, Medikamente, Verbände, sogar Handschuhe zur Erstuntersuchung müssen zuvor cash bezahlt bzw. oft in Apotheken außerhalb zunächst  besorgt werden. Wer in Haiti keine Familie hat, ist verloren. Da helfen auch die vielen Waisenheime nicht, die entwurzelte Kinder mit 18 Jahren ihrem Schicksal überlassen. Die Integration in die Herkunftsfamilie oder eine neue Pflegefamilie ist von zentraler Bedeutung.
Interessanterweise nennen befragte Haitianer einen zentralen Unterschied im Vergleich der Erziehungsstrukturen: Deutsche reden mit ihren Kindern, es wird erklärt, an die Einsicht des Kindes appelliert. Man investiert in eine Vertrauensbeziehung. In Haiti wird wenig geredet, schnell geschlagen. Das Kind hat zu gehorchen. Hierarchische Strukturen dominieren. Man hat den Älteren zu respektieren. Als Jüngste wird man von jedem rumgeschickt, alle möglichen und unmöglichen Dienste zu verrichten (muss ehrlich zugeben, wie zuckersüß verführerisch dies ist). Man wächst mit dem Entschluss auf: „Wenn ich groß bin, schickt mich niemand, dann sitze ich faul und dick in der Ecke und schicke meine Jüngeren umher!“ Genauso ist das Bild einer erfolgreichen Person: ordentlich Hüftspeck, mächtige Stimme und sitzend. Unsere Nachkriegsgeneration kann dies nicht nachvollziehen: wir haben mit eigenen Händen gemeinsam angepackt und aus Ruinen unser Land, mit Hilfe Dritter, aufgebaut. Die Mehrheit musste sich wieder von unten hocharbeiten. Ein guter Leiter ist der Diener aller. Man geht mit gutem Beispiel voran, fleißig wie die Bienchen. Herzinfarkt ist nicht das Ziel, man nimmt es aber in Kauf beim Erklimmen der Karriereleiter. Kompetenz ist das primäre Auswahlkriterium für die Besetzung von Arbeitsplätzen. Doch nicht so in Haiti: familiäre Beziehungen und Kontakte bestimmen, die Willigkeit zu unanständigen Diensten als Sekretärin ebenso. Da staatliche Administrationen schlecht bzw. oft gar nicht bezahlt werden, ist man auf Grund seiner Position vielleicht präsent. Aber zur wahren Tätigung einer Arbeit, da muss der Anfragende erstmal Geld fließen lassen, denn dies ist schon wieder nicht inklusive. Leider teilt man zwar Wohnraum etc.,  aber nicht Wissen. So verteidigt jeder seinen Arbeitsplatz bis aufs Blut (wortwörtlich zu nehmen),  da diese rar sind und sich zahlreiche andere Personen finden lassen würden. Man besticht nicht mit guter Arbeit, sondern durch Schmiergelder, die nach oben verteilt werden an denjenigen, der einem diesen Platz besorgt hat. Hier würde ich uns Deutsche als großzügig bezeichnen: wir erklären geduldig, umfassend und gerne auch ungefragt alle möglichen Wissensthemen und fachlichen Kompetenzen. Auch bei uns gibt es eine Ellenbogengesellschaft, man manipuliert und schmiert (auf anerkanntere legale Weise), doch es scheint mir ein stärkerer Teamgeist vorhanden, zum Wohl der Sache. Meine Interviewpartner bezeichnen uns Deutsche als ehrgeizig, diszipliniert, organisiert, auf Sicherheit bedacht, und qualitativ. Die Sache steht über der Beziehung, die Gefahr der Prinzipienreiterei kann ich nicht verleumden. Frage mich woher diese Überzeugung kommt, doch ich glaube an Lösungen: „Das ist machbar“, „es kann funktionieren“, auch wenn ich noch nicht sehe wie genau, eines Tages, werde ich es herausfinden. Ist dies unser Erfindungsgeist, unsere Kultur, in der wir uns rechtlich abgesichert und geschützt fühlen? Wir stellen uns in der Schlange hinten an. In Haiti geht man an allen vorbei nach vorne, während sich kein Einziger darüber beschwert. Es gilt nicht das gleiche Recht für alle. Dies wird akzeptiert. Man resigniert. Man gehört nicht zu den Privilegierten. Man findet sich mit der Situation ab, das schont die Nerven. Im besten Fall lacht man drüber. Mich stimmt es traurig, da ich an Lösungen glaube und sie teilweise im eigenen Land erfahren habe: eine funktionierende Müllabfuhr, ein organisiertes Geburtsregister, unverfälschte Grundstücksbücher,  eine Gebühr, die für alle gleich ist…. 

Interessanterweise wurde mir gesagt, wir seien ein Volk, in dem jeder Ökonomie im Blut habe. Ich muss schmunzeln. Unser Kapitalismus ist und wirklich ins Blut übergegangen. Doch auch positive Dinge, wie Geldeinteilung auf den gesamten Monat, Ansparen, Investieren um Gewinn zu erhalten, Buchführung, Kreditsysteme, sorgsamer Umgang mit Materialien,… Durch den Zwang zu Teilen, geben viele das, was sie haben am selben Tag noch aus. Würde es in einer Spardose liegen, könnten sie es nicht gegen eine Notlage des Mitmenschen verteidigen. Wo beginnt die Grenze zum Egoismus? Wo würde man es als kluge Ökonomie bezeichnen? Im Iran gilt man als klug, wenn man als Händler den Käufer übers Ohr haut, das Wort „lügen“ wird in diesem Zusammenhang wirkungslos. Wo sind wir betriebsblind? Wo ist unsere Ökonomie im Blut ein wertvoller Schatz, den wir auch an andere weitergeben können? 

Deutsche sind emotional kontrolliert. Meine 3 Jährige Tochter fragte mich einmal ganz eingeschüchtert auf der Rückbank, wieso denn der Fahrer immer mit dem Beifahrer so streite. Dabei waren die beiden in ein friedliches, aber eben emotionales Gespräch verwickelt. Unterschiedliche Meinungen werden hitzig ausgetauscht. Im Vergleich zu der haitianisch ausdrucksstarken Mimik und Gestik wirken wir wie ein erstarrter Eisklotz. Uns sagt man nach, wir können nicht Tanzen. Laute Schreie mitten in der Nacht, die das ganze Quartier wecken, verkünden meist Todesfälle. Beerdigungen sind laut mit Posaunen Fanfare und sich hin und herwerfenden schreienden Frauen. Nach einem Motorradunfall liegen Menschen am Boden, nach deren Gestik wir urteilen würden, dass eine sehr schwere Verletzung vorliegt. Doch nach kurzer Zeit, sobald ein wenig Geld gegeben wurde, um zum Arzt zu gehen und die Schaulustigen wieder ihrer Wege ziehen, steht der Betroffene wieder auf, und zieht nur mit leichtem Humpeln von Dannen. Es ist eine andere Gefühlswelt. Ausdrucksstark. Genauso wie man sich der Musik komplett hingibt, den Volkstanz „Compa“ eng angeschmiegt mit seinem Partner tanzt (würde in unserer Kultur als anstößig angesehen werden), der Kirche um 4 Uhr morgens Lieder singt, die durch alle Nachbarstraßen tönen, oder dem Fußballspiel im Fernsehen zujubelt. Temperamentvoll. Pulsierendes Leben, laut, bunt und hingebungsvoll. 

Mit wenig wird Ambiente geschaffen: ein bisschen Musik, ein Holz zum Trommeln, Freunde, witzige Geschichten reichen aus, um sich köstlich zu amüsieren. Ich wunderte mich, wie manche Menschen überhaupt noch lachen können, nachdem ich von ihrem Schicksal erfuhr: „Wenn ich nicht mehr lachen würde, dann wäre tatsächlich alles vorbei!“, war die Antwort. Ein Volksspruch lautet: “Solange du noch einen Kopf hast, bleibt Dir die Hoffnung eines Tages einen Hut aufzuziehen.“ Stehaufmenschen. Der Präsident Michel Martelly investierte in den Karneval und dezentralisierte ihn– ein taktisch sehr kluger Schachzug. Hier will ich mir eine dicke Scheibe abschneiden und die Gewohnheit zu nörgeln, mich von kleinen Dingen schnell frustrieren zu lassen,  eine kritische Perspektive einzunehmen, eine gewisse chronische Unzufriedenheit zu verspüren, ein Stückweit abzulegen. Aus Wenig viel zu machen, das zeigen uns bereits die Kleinsten: Jungs basteln aus leeren Plastikflaschen die schönsten Autos, die sie hinter sich herziehen, Mädchen frisieren hingebungsvoll Puppen mit langen Haaren aus alten Mangokernen. Aus dem Vielen, was mir das Leben gab – was mache ich daraus? 

Nach einem Heimatbesuch fällt mir wieder erneut auf, wie kraftaufwendig die gewöhnliche Alltagsbewältigung in Haiti ist: ohne Kühlschrank muss jede Mahlzeit frisch zubereitet, ohne Supermärkte alles frisch eingekauft, jeder einzelne Preis verhandelt werden; ohne Auto alle Einkäufe eigens nach Hause getragen (elegant auf dem Kopf), Holzkohlefeuer sammeln, entfachen statt Herdplatte antippen, Trinkwasser in Gallonen einkaufen, Waschwasser in Eimern heranschleppen, jedes einzelne Kleidungsstück von Hand schrubben, waschen, wringen, aufhängen; ohne Pampers, jedes Malheur aufwischen; ohne Hundefutter für die Tiere extra kochen; Transportwege über Holperstraßen, Staubüberzogen kommt man zurück, ohne Strom zündet man die Petroleumlampe an. Staubsauger gibt es keinen, Wochenputz auch nicht, da der Staub täglich durch alle Ritzen dringt. Ich vermisse Dich, Du meine Waschmaschine, mein mannsgroßer Kühlschrank, mein Trockner, meine Waschmaschine, mein Umluftherd für einen knackig braunen Kuchen, mein Stromnetz, das mir treu ist,… Habe gelernt auch ohne Euch zu leben, doch eines Tages hoffe ich Euch wiederzusehen. Bin beschämt, wenn ich mich dabei ertappe zu klagen, wie angeblich schwer mein Leben sei. 

Kleider machen Leute“ ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Ich kann nur immer wieder staunen, wie sauber und korrekt gebügelt die Menschen zur Kirche spazieren oder die Kinder mit ihrer Uniform in die Schulen, da ich um die Häuser weiß, aus denen sie kommen, die Bütten unterm Bett als Schrankersatz, die Bügeleisen, die mit Holzkohle erhitzt werden,… Man trägt ein Schweißtuch fürs Gesicht bei sich, zudem ein Tuch, um sich den Staub der Straßen von den Schuhen  zu wischen. Haitianer schütteln verständnislos bis verächtlich den Kopf über die Ausländer, die fraglos die finanziellen Mittel hätten, sich anständig und fein zu kleiden, sich aber aus unerklärlichen Gründen vernachlässigen. Nach einem Besuch in den USA nannte unser Direktor Walner als befremdlichstes Ereignis, eine Abiturientenfeier, zu der viele Väter in kurzen Alltagshosen aufgetaucht sind, während er in seinem perfekten Anzug saß. Es wirkte wie ein Zerfall von Kultur für ihn, ein Zeichen von Respektlosigkeit. Bei meinem Visaantrag in der Hauptstadt, wurde ich mit einem Oberteil, das nicht meine Schultern bedeckte schlichtweg nicht in das Gebäude reingelassen

Eine interessante Frage ist, in welchen Situationen uns Haitianer als „einfältig“ bezeichnen würden: „Du wirst keinen einzigen Haitianer finden, der nicht an Gottes Existenz glaubt, auch wenn sich nicht jeder dafür entscheidet, ihm zu dienen. Uns sitzen Europäer gegenüber, die durch wissenschaftliche Theorien aufgeblasen sind und uns hinsichtlich unserer Spiritualität als „einfältig“ bezeichnen.“ Eine zweite Situation kommt häufig vor im Zusammenhang mit Krankheiten. Wir Europäer gehen von anatomischen Zusammenhängen aus, die Ursache ist meist durch Bakterien, Viren oder erbliche Disposition erklärbar. Für den Haitianer liegt die Ursache zu 95% im spirituellen Bereich. Ein Nachbar oder ein eifersüchtiger Freund habe Magie betrieben und durch einen Fluch diese Krankheit angehext. Wir hingegen schließen spirituelle Zusammenhänge zu 95% kategorisch aus. Spannend wird es, wenn alle ihre Besserwisserei beiseitelegen und man sich auf einen Dialog einlässt. Ich bin sicher, wir können viel voneinander lernen und spannende Zusammenhänge entdecken.  So existiert ein so interessantes Naturheilwissen,  das ich wie ein Schwamm aufsauge. Es ist gut, logisch zu denken, Beweise zu suchen und Zusammenhänge zu erforschen, doch manchmal steht unsere Kopflastigkeit unserem Herzen im Weg. 

Mitleid ist ebenso ein unreflektiertes Gefühl. Eine Frau mit 7 Kindern tut mir von vornherein leid. Haitianische Freundinnen bemitleiden umgekehrt mich, da ich nur zwei leibliche Mädchen zur Welt gebracht habe. Genauso wenig, wie ich ihr ungefragtes Mitleid möchte, möchten sie sicherlich das Meine.
In professionalisierter Form der Boshaftigkeit begegnet uns der Voodoo in erschreckenden Ritualen: Augen oder Gliedmaßen der eigenen Kinder werden geopfert, bis hin zu Säuglingen. Tieropferreste findet man am Morgen auf verschiedenen Straßenkreuzungen. In Europa ist eher eine scheinbar harmlosere Form des Liebesvoodoo bekannt (erhältlich in jeder größeren Buchhandlung), doch satanische Kulte existieren dort ebenso. Die haitianische Krönung ist die Zombifizierung, die weltweit in Literatur und Filmen aufgegriffen wird.  

Made in Germany“ ist ein anerkanntes und stolzes Label. Die haitianische Flagge wird täglich in Begleitung der Nationalhymne vor jeder Schule im Land gehisst, ein schönes patriotisches Ritual, doch leider gilt das Label „Made in Haiti“ als minderwertig. Wunderschöne Ledersandalen, Taschen, Flechtstühle, gewebte Tischdecken, Holzmörser, Schreinerwerke, kreative Künstlerartikel, … dies wirkt für uns europäische Ökos anziehend, doch das haitianische Volk selbst kauft lieber Importprodukte, wenn es kann. Jammerschade. Es ist eine andere Art von Nationalstolz. Wir definieren uns eher dadurch, was wir produzieren, unsere Leistung, sind stolz auf die deutsche Qualität.  Haitianer definieren sich dadurch was in der Vergangenheit erreicht haben: schließlich erkämpfte Haiti die Revolution als der erste unabhängige schwarze Staat 1804.  

Zeitwörter sind sehr dehnhafte Begriffe in Haiti. „Talè“ kann gleich, in 2 Minuten, in 5 Tagen oder auch eine hoffnungsvolle Vertröstung auf Niemals bedeuten. Um 9:59 ist es immer noch 9Uhr, da schließlich noch eine 10 davor steht. Man sieht, Pünktlichkeit ist ein Verständnisproblem, eine Stunde ist keine Verspätung. Zu Hochzeiten sind wir 2 Stunden –deutsch gefühlt „zu spät“- gekommen und waren immer noch die ersten Gäste, die nochmal eine Stunde warteten, bis das Brautpaar kam. Dafür altert man auch schneller: ab dem 1.1. des aktuellen Jahres teilt jeder auf die Frage hin, wie alt er sei, das kommende Alter für dieses aktuelle Jahr mit. Egal, ob er am 2.Januar oder aber am, 31.Dezember geboren ist. Ganz ehrlich, man sieht es ihnen eh nie an – das Alter. Da es keinen Zug gibt, nur wenige Fliegen, die Schulen ebenso dehnhaft mit der Zeit umgehen,… die deutsche Pünktlichkeit, die Erwartung des deutschen Arbeitgebers auf pünktliches Erscheinen am Morgen – es bleibt ein unverständliches Mysterium für einen Haitianer. Wir hoffen, dass mit der Einführung recht pünktlicher Busverbindungen (nur 10-15 Minuten verspätete Abfahrt, dafür bleibt man manchmal auf der Strecke hängen, weil das Benzin ausging), haben wir Deutsche natürlich Hoffnung auf Besserung. Zeit ist nämlich Geld. Und im sozialen Kontext gibt es nichts Wertvolleres als Zeit, denn jede Minute ist ein Teil meines Lebens, der nie wiederkehrt: dieses Geschenk ist wertvoll. Der Durchschnittshaitianer schlägt jedoch jeden einzelnen Tag seines Lebens die Zeit tot – ohne Arbeit, Alltagsstruktur, mangelndem Sinn der eigenen Misere. Hier müssen sich Strukturen ändern, um aufeinander zugehen zu können. Ich lerne die entschleunigte Lebensgeschwindigkeit zu genießen und nicht auf einen sicheren Stress-Herzinfarkt zuzusteuern. Haitianische Gelassenheit ist hier die beste Medizin. Doch noch ein anderer Aspekt fasziniert mich: Man nimmt sich Zeit – Zeit für Begegnung. Beim Grüßen, frägt man nach allen Familienangehörigen, danach wie man geschlafen hat, was man gegessen hat,… für Beziehungen nimmt man sich Zeit. „Beziehungspflege“ wird ein fassbarer Begriff. 

Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Eintauchen in diese bunten Welten!

Dem zunächst Fremden zu begegnen gewährt einen neuen Blick in den eigenen Spiegel. – und weitet die Wahrnehmung und das Herz! 

Wir machen diese Erfahrung hier in Haiti, doch in Deutschland geben uns die Flüchtlinge ebenso die Chance neue Farben und Formen zu entdecken.

1 Kommentar:

  1. Toller Bericht und Gedanken die mich teilweise auch immer wieder beschäftigen, wenn auch ohne den passenden Kontrast lebhaft vor Augen zu haben. Und es ist schön zu sehen, dass jede Kultur von der anderen lernen kann und dass die Offenheit sich auf etwas anderes Einzulassen und sich mit ungewohntem Verhalten und Denken zu beschäftigen, die beste Grundvorraussetzung ist die Welt ein bißchen besser zu verstehen und vielleicht auch ein bißchen besser zu hinterlassen!

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