Was mir als erstes zur haitianischen Kultur in den Sinn
kommt, ist die Gastfreundschaft.
Allezeit wird man herzlich willkommen geheißen, dem Gast wird das Beste
gegeben: hat man keine Stühle, leiht man sich schnell welche vom Nachbarn, um
dem Gast eine Sitzgelegenheit zu bieten. Das einzige Bett wird einem bereitet,
die einzige Lampe daneben gestellt; man traut sich gar nicht zu fragen, wo denn
nun die Familie schlafen wird – bis man dann am nächsten Morgen feststellt,
dass die Meisten unter freiem Himmel genächtigt haben, damit uns Gästen eine
angenehme Nacht möglich war. Eines Tages besuchten wir eine Familie, die
bereits zum dritten Mal ihr Haus verloren hatte, zweimal durch Fluten und das
letzte Mal beim Erdbeben. Sie lebten in einem Wellblechverschlag, 1m auf 2 m,
daneben nochmal ein gleichförmiger Verschlag für die Familie des Onkels. Da wir
uns angekündigt hatten, wartete zwischen den Baracken eine kleine hübsch bunte
Sitzmauer auf uns, die aus losen gesammelten Blocksteinen gemauert und mit
einer schönen Decke überzogen war. Sogar ein kleiner Tisch wurde aus
Holzabfallplatten gerichtet: diese Bemühungen, es einem Gast so angenehm wie
nur irgend möglich zu machen – egal wie miserabel die eigene Situation ist,
berührt mein Herz. (2012 haben wir für diese zuletzt genannte Familie ein
Spendenhaus in Grand Goave bauen dürfen).
Natürlich schlüpfen auch wir immer wieder in die Rolle des Gastgebers
(wir Pfälzer sind bekanntlich gut darin). So sprach ich eines Tages ich mit
aufrichtigem Herzen zu einer 60jährigen, die bereits damals schon mit meinen
Schwiegereltern befreundet gewesen ist, dass sie willkommen sei in unserem Haus
und sich –wie man so schön auf Deutsch zu sagen pflegt- wie zu Hause fühlen
soll. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass dies eine Wohndauer von 3
Monaten zu Folge hat J
(sie war in Begleitung einer psychisch kranken jungen Frau, die dauerhaft
Betreuung brauchte). Ohne Hintergedanken sprach ich meine Worte, aufrichtig,
aber ausgehend von meinem eigenen kulturellen Verständnis - sie hörte zu und verstand es durch die
Brille ihrer haitianischen Kultur, die ihr auch 3 Jahre Wohnrecht gewährt
hätte.
In Deutschland kommt man nicht zur Essenszeit zu Besuch, das
stört, dringt in die Privatsphäre ein,… In Haiti kommt man extra zur Essenszeit
zu Besuch, um etwas abzubekommen – und tatsächlich, jeder, der da ist, bekommt
einen Anteil. Ganz gleich, für wie viele gekocht wurde. Der Hausherr erhält die
erste Portion, selbstverständlich die Größte. Anschließend wird das, was man
hat aufgeteilt auf alle Münder. Da die Küche nicht versteckt im Haus ist,
sondern alle Aktivitäten draußen stattfinden und die gesamte Nachbarschaft es
mitbekommt, wenn man das Feuer zündet, finden sich im Grunde immer zusätzliche
Esser ein. Für arme Familien mag das in diesem Moment hart sein, zu teilen,
doch sie wissen: wenn ich morgen nichts habe, dann darf ich genauso zu dieser
Person gehen und sie wird wiederum mit mir teilen. Ein sozialer Vertrag der
Solidarität. Teilen ist einer der
großen Grundwerte. Schon ein Kleinkind lernt, alles zu teilen. Hat es ein
einziges Bonbon, so wird es in viele kleine Stückchen zerbissen, damit jeder
aus der Familie bzw. alle Anwesenden ein Eckchen abbekommen. An einem Lutscher,
lutscht jeder mal drüber. Erwachsene fragen immer, sobald ein Kind etwas isst,
ob es davon ein bisschen „ti kal“ abbekommt. Gibt das Kind bereitwillig,
bedankt sich der Erwachsene zufrieden und lässt dem Kind seinen Genuss, zögert
das Kind oder weigert es sich, so wird es mit einem sehr schlimmen Wort beschimpft
„chich“ (geizig). Mir würde sowas nicht im Traum einfallen, von anderen
Lutschern ein Stückchen einzufordern – im Gegenteil, ich habe zu viele
Gesundheitsschulungen hinter mir, als dass ich diese Teilerei von Bakterien genießen
könnte. Auf die Frage hin, was man NICHT teilen würde, überlegen meine
befragten Haitianer sehr, sehr lange: „Meine Zahnbürste möchte ich nur ungern
teilen.“ „Wenn es möglich ist, dann hätte ich gerne mein Bett für mich alleine.“
„Meine Partnerin/ meinen Partner möchte ich nicht teilen.“ Meine Liste wäre in Sekundenschnelle
parat und hätte Klopapierlänge. – Das gibt mir zu denken. Egoismus, Abgrenzung,
individuelle Erfüllung, sind uns genauso selbstverständlich, wie die Themen Privatsphäre und Intimbereich. Im Kinderdorf der Lebensmission hat jedes Kind sein
eigenes Bett. Wenn ich so drüber nachdenke, dann ist es wohl auch das Einzige,
was es wirklich für sich als privater Raum hat. Auf all meinen vielen
Patenschaftsbesuchen der Familien außerhalb habe ich kein Kind erlebt, das ein
Bett für sich alleine hat. Bei besser gestellten Familien kommt das vor, doch
sie bleiben die Ausnahme. Es ist generell bekannt, dass wir Deutschen eine größere
Intimzone brauchen, um uns wohl zu fühlen. Verschiedenen Persönlichkeitstest zu
Grunde bin ich ein eigenständiger, tendenziell distanzierter Typ; legen wir
also nochmal ein paar cm hinzu. Mein Körperkontaktbedarf wird allein bei einer
Autofahrt mit 7 Personen und einem Kleinkind auf dem Schoß in einem Pickup von
Gonaives nach Port-au-Prince (einfache Fahrt ca. 3 Std.) gefühlsmäßig für einen
Monat lang gedeckt. In den bunten TapTaps, in die 10-16 Menschen einsteigen
(auf der Ladefläche eines Pickups), ist man nicht Kontaktscheu: sind die Sitzplätze
belegt, setzt man sich auf den Schoß der fremden „Blan“ (Weißen), oder vor ihr
in die Hocke auf den Mittelgang, während man ihre Beine mit den verschwitzten
Armen umschlingt, um bei der Fahrt nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Meine
Erstgeborene ist ein Septemberkind, so dass ich mich viel damit beschäftigt
habe sie im warmen Bad nackt zu massieren, damit sie den nötigen Körperkontakt
erhält, der durch die viele Winterkleidung verhindert wird. Hier kann sich kein
Baby über zu wenig direkten Körperkontakt beschweren. Die Sozialisierung
scheint dadurch sehr erfolgreich. Doch auch von kuscheligen Typen wird Haiti
als grenzwertig empfunden.
Der Haitianer grenzt sich innerlich ab, wo es äußerlich
nicht möglich ist; es entsteht eine besondere gegenseitige Toleranz. Dass man
gemeinsam über Jahre hinweg zusammen gewohnt hat, lässt nicht auf die Enge der
Beziehung zueinander schließen – was mich wiederum erstaunt. Es gibt eine
innere Privatsphäre, die nicht angerührt wird. Über eigene Gefühle spricht man
nicht. Das Leben geht weiter und man hat sich nicht zu beklagen – angesichts
der vielen widerkehrenden Katastrophen keine schlechte Überlebensstrategie. Als
Sozialpädagogin und Seelsorgerin zögere
ich neuerdings, wirklich nachzufragen, wie es dem Einzelnen geht. Kann ich all
das erfahrene Leid auffangen? Habe ich eine Lösung zu bieten? Gibt es Trost?
Gibt es Heilung? Hier teilt sich die Welt für mich klar: nein, ich kann das
Leid nicht auffangen, es zerbricht mich allein beim Zuhören. Doch ich kenne
einen Gott, der Weg, Wahrheit und das Leben ist, der Zerbrochenes heilt und in
der größten Dunkelheit das Licht ist. Es war mir lange unverständlich, wieso so
wenig gesprochen wird. Wieso es scheinbar so oberflächlich abläuft. Wieso
Beziehungen so sind, wie sie mir erscheinen. Doch nach mehreren Jahren wächst
hier mehr und mehr Respekt vor der wahren Größe des haitianischen Volkes, sich
tagtäglich immer und immer wieder durch so viel widrige Umstände zu wurschteln
und die Lebensfreude nicht zu verlieren – es öffnet mir die Augen für unsere europäische
Oberflächlichkeit, unser Sicherheitsstreben, unser Therapieboom aufgrund
unserer Freudlosigkeit. Wann hat Dein Leben einen Wert? Was braucht der Mensch überhaupt
zum Leben? Was gibt Sinn? Was macht glücklich? – grundlegende Fragen werden
hier aufgeworfen und die Antwort fällt in verschiedenen Ländern so
unterschiedlich aus.
Die Körperkultur ist
gewöhnungsbedürftig. Mangels Badezimmer in den Häusern, duscht man im Hof bestenfalls
hinter einem kleinen Wellblechverschlag. Oft aber auch an einem öffentlichen
Brunnen, im Fluss oder an einem Kanal. Die Unterhosen behält man an, der
Oberkörper bleibt frei. Die weibliche Brust ist keine Tabuzone. Als Sexuell
aufreizend hingegen wird der Hintern und die Oberschenkel betrachtet. Mangels
sanitärer Anlagen pinkelt jedermann am Straßenrand, an jeder Hausmauer mit
freigiebigem Blick auf seine Genitalien; Frauen bücken sich kurz mal mitten auf
dem Markt, durch ihre langen Röcke sieht man nichts als das davonrinnende
Bächlein. In einem Zimmer leben ca. 5 Menschen beisammen, so boomen die
Stundenhotels. Bei der Erkundung verschiedener Preise für einen Besucher wurde meinem
Mann und mir in einem renommierten Hotel sogleich ganz selbstverständlich der
Stundenpreis genannt. Unsere Vision als Habitat-HT neue Standards zu setzen bestätigt
sich: Häuser mit Toilette und Duschkabine, sowie separierten Schlafzimmern zu
bauen.
„Haiti hat 2 Prinzipien: Familie und Nachbarschaft!“, erklärte mir in meinen ersten Monaten
unser Sekretär. Familie ist der größte
Schutzrahmen, den man in Haiti hat. Es gibt keine Versicherungen. Alle Onkels
legen zusammen, um das Studium des ältesten Neffen zu finanzieren. Wird etwas
aus ihm, so wird er später die nächste Generation der Cousins und Cousinen
versorgen. Es ist ein Generationenvertrag. Es gibt fast keine einsamen alten
Menschen, keine Behindertenheime, keine Krankenstation für kranke Kinder mit
Komplettversorgung. Man bleibt in die Familie integriert. Mit allen positiven
und negativen Konsequenzen. Schlüsselkinder gibt es in dem Sinne nicht, es ist
eigentlich immer jemand zu Hause oder in der Nachbarschaft, da die Großfamilie
tatsächlich groß ist. Stabile Bezugspersonen sind in der Regel gegeben. So
spricht aber auch jeder jedem in die Erziehung, Haushaltsführung, Ehe ect. hinein. Autonomie setzt sich eher unter
Wohlverdienenden durch. Alte Gewohnheiten sind schwerer abzuschütteln, da man
dem Älteren nicht widersprechen darf. Auch die finanzielle Solidarität führt
oft zu heftigen Konflikten zwischen den Partnern, da man eh wenig für die
eigenen Kinder zur Verfügung hat und dann noch einen hohen Anteil an die Großfamilie
abgeben soll. Die Rollenverteilung ist konservativer: die Frau hat meist ein
niedrigeres Bildungsniveau und ist vom Mann abhängig. So kann nicht das gesamte
Potential einer gleichwertigen Partnerschaft ausgeschöpft werden. Die
Geschäftswelt wird von Männern bestimmt. Partnerschaftliche Verhältnisse sind
hier wohl so wie vor 100 Jahren in Europa. Durch die Arbeitslosigkeit kann der
materielle Grundbedarf der Familie nur gering gedeckt werden. Es ist
erschreckend hautnah mitzuerleben, wie die meisten Familien unter dem
Mindestniveau mehr schlecht als recht überleben. Ohne den familiären
Zusammenhalt, wäre es sicherlich noch schlimmer. Staatliche Fürsorge existiert
in unserem Sinne nicht. Im Krankenhaus braucht es eine Angehörige, die den
Kranken wäscht, versorgt, eigens gekochtes Essen gibt, etc. Spritzen,
Medikamente, Verbände, sogar Handschuhe zur Erstuntersuchung müssen zuvor cash
bezahlt bzw. oft in Apotheken außerhalb zunächst besorgt werden. Wer in Haiti keine Familie
hat, ist verloren. Da helfen auch die vielen Waisenheime nicht, die entwurzelte
Kinder mit 18 Jahren ihrem Schicksal überlassen. Die Integration in die
Herkunftsfamilie oder eine neue Pflegefamilie ist von zentraler Bedeutung.
Interessanterweise nennen befragte Haitianer einen zentralen
Unterschied im Vergleich der Erziehungsstrukturen: Deutsche reden mit ihren
Kindern, es wird erklärt, an die Einsicht des Kindes appelliert. Man investiert
in eine Vertrauensbeziehung. In Haiti wird wenig geredet, schnell geschlagen.
Das Kind hat zu gehorchen. Hierarchische
Strukturen dominieren. Man hat den Älteren zu respektieren. Als Jüngste
wird man von jedem rumgeschickt, alle möglichen und unmöglichen Dienste zu
verrichten (muss ehrlich zugeben, wie zuckersüß verführerisch dies ist). Man
wächst mit dem Entschluss auf: „Wenn ich groß bin, schickt mich niemand, dann
sitze ich faul und dick in der Ecke und schicke meine Jüngeren umher!“ Genauso
ist das Bild einer erfolgreichen Person: ordentlich Hüftspeck, mächtige Stimme
und sitzend. Unsere Nachkriegsgeneration kann dies nicht nachvollziehen: wir
haben mit eigenen Händen gemeinsam angepackt und aus Ruinen unser Land, mit
Hilfe Dritter, aufgebaut. Die Mehrheit musste sich wieder von unten
hocharbeiten. Ein guter Leiter ist der Diener aller. Man geht mit gutem
Beispiel voran, fleißig wie die Bienchen. Herzinfarkt ist nicht das Ziel, man
nimmt es aber in Kauf beim Erklimmen der Karriereleiter. Kompetenz ist das primäre Auswahlkriterium für die Besetzung von
Arbeitsplätzen. Doch nicht so in Haiti: familiäre Beziehungen und Kontakte
bestimmen, die Willigkeit zu unanständigen Diensten als Sekretärin ebenso. Da
staatliche Administrationen schlecht bzw. oft gar nicht bezahlt werden, ist man
auf Grund seiner Position vielleicht präsent. Aber zur wahren Tätigung einer
Arbeit, da muss der Anfragende erstmal Geld fließen lassen, denn dies ist schon
wieder nicht inklusive. Leider teilt man zwar Wohnraum etc., aber nicht Wissen. So verteidigt jeder seinen
Arbeitsplatz bis aufs Blut (wortwörtlich zu nehmen), da diese rar sind und sich zahlreiche andere Personen
finden lassen würden. Man besticht nicht mit guter Arbeit, sondern durch
Schmiergelder, die nach oben verteilt werden an denjenigen, der einem diesen
Platz besorgt hat. Hier würde ich uns Deutsche als großzügig bezeichnen: wir
erklären geduldig, umfassend und gerne auch ungefragt alle möglichen
Wissensthemen und fachlichen Kompetenzen. Auch bei uns gibt es eine
Ellenbogengesellschaft, man manipuliert und schmiert (auf anerkanntere legale
Weise), doch es scheint mir ein stärkerer Teamgeist vorhanden, zum Wohl der
Sache. Meine Interviewpartner bezeichnen uns Deutsche als ehrgeizig,
diszipliniert, organisiert, auf Sicherheit bedacht, und qualitativ. Die Sache
steht über der Beziehung, die Gefahr der Prinzipienreiterei kann ich nicht
verleumden. Frage mich woher diese Überzeugung kommt, doch ich glaube an
Lösungen: „Das ist machbar“, „es kann funktionieren“, auch wenn ich noch nicht
sehe wie genau, eines Tages, werde ich es herausfinden. Ist dies unser
Erfindungsgeist, unsere Kultur, in der wir uns rechtlich abgesichert und
geschützt fühlen? Wir stellen uns in der Schlange hinten an. In Haiti geht man
an allen vorbei nach vorne, während sich kein Einziger darüber beschwert. Es
gilt nicht das gleiche Recht für alle. Dies wird akzeptiert. Man resigniert.
Man gehört nicht zu den Privilegierten. Man findet sich mit der Situation ab,
das schont die Nerven. Im besten Fall lacht man drüber. Mich stimmt es traurig,
da ich an Lösungen glaube und sie teilweise im eigenen Land erfahren habe: eine
funktionierende Müllabfuhr, ein organisiertes Geburtsregister, unverfälschte
Grundstücksbücher, eine Gebühr, die für
alle gleich ist….
Interessanterweise wurde mir gesagt, wir seien ein Volk, in
dem jeder Ökonomie im Blut habe. Ich
muss schmunzeln. Unser Kapitalismus ist und wirklich ins Blut übergegangen.
Doch auch positive Dinge, wie Geldeinteilung auf den gesamten Monat, Ansparen,
Investieren um Gewinn zu erhalten, Buchführung, Kreditsysteme, sorgsamer Umgang
mit Materialien,… Durch den Zwang zu Teilen, geben viele das, was sie haben am
selben Tag noch aus. Würde es in einer Spardose liegen, könnten sie es nicht
gegen eine Notlage des Mitmenschen verteidigen. Wo beginnt die Grenze zum Egoismus?
Wo würde man es als kluge Ökonomie bezeichnen?
Im Iran gilt man als klug, wenn man als Händler den Käufer übers Ohr haut, das
Wort „lügen“ wird in diesem Zusammenhang wirkungslos. Wo sind wir
betriebsblind? Wo ist unsere Ökonomie
im Blut ein wertvoller Schatz, den wir auch an andere weitergeben können?
Deutsche sind emotional
kontrolliert. Meine 3 Jährige Tochter fragte mich einmal ganz eingeschüchtert
auf der Rückbank, wieso denn der Fahrer immer mit dem Beifahrer so streite.
Dabei waren die beiden in ein friedliches, aber eben emotionales Gespräch verwickelt.
Unterschiedliche Meinungen werden hitzig ausgetauscht. Im Vergleich zu der haitianisch
ausdrucksstarken Mimik und Gestik wirken wir wie ein erstarrter Eisklotz. Uns
sagt man nach, wir können nicht Tanzen. Laute Schreie mitten in der Nacht, die
das ganze Quartier wecken, verkünden meist Todesfälle. Beerdigungen sind laut
mit Posaunen Fanfare und sich hin und herwerfenden schreienden Frauen. Nach
einem Motorradunfall liegen Menschen am Boden, nach deren Gestik wir urteilen
würden, dass eine sehr schwere Verletzung vorliegt. Doch nach kurzer Zeit, sobald
ein wenig Geld gegeben wurde, um zum Arzt zu gehen und die Schaulustigen wieder
ihrer Wege ziehen, steht der Betroffene wieder auf, und zieht nur mit leichtem
Humpeln von Dannen. Es ist eine andere Gefühlswelt. Ausdrucksstark. Genauso wie
man sich der Musik komplett hingibt, den Volkstanz „Compa“ eng angeschmiegt mit
seinem Partner tanzt (würde in unserer Kultur als anstößig angesehen werden),
der Kirche um 4 Uhr morgens Lieder singt, die durch alle Nachbarstraßen tönen, oder
dem Fußballspiel im Fernsehen zujubelt. Temperamentvoll. Pulsierendes Leben,
laut, bunt und hingebungsvoll.
Mit wenig wird Ambiente geschaffen: ein bisschen Musik, ein Holz zum Trommeln, Freunde,
witzige Geschichten reichen aus, um sich köstlich zu amüsieren. Ich wunderte
mich, wie manche Menschen überhaupt noch lachen können, nachdem ich von ihrem
Schicksal erfuhr: „Wenn ich nicht mehr lachen würde, dann wäre tatsächlich
alles vorbei!“, war die Antwort. Ein Volksspruch lautet: “Solange du noch einen
Kopf hast, bleibt Dir die Hoffnung eines Tages einen Hut aufzuziehen.“
Stehaufmenschen. Der Präsident Michel Martelly investierte in den Karneval und
dezentralisierte ihn– ein taktisch sehr kluger Schachzug. Hier will ich mir
eine dicke Scheibe abschneiden und die Gewohnheit zu nörgeln, mich von kleinen
Dingen schnell frustrieren zu lassen,
eine kritische Perspektive einzunehmen, eine gewisse chronische Unzufriedenheit
zu verspüren, ein Stückweit abzulegen. Aus Wenig viel zu machen, das zeigen uns
bereits die Kleinsten: Jungs basteln aus leeren Plastikflaschen die schönsten
Autos, die sie hinter sich herziehen, Mädchen frisieren hingebungsvoll Puppen
mit langen Haaren aus alten Mangokernen. Aus dem Vielen, was mir das Leben gab –
was mache ich daraus?
Nach einem Heimatbesuch fällt mir wieder erneut auf, wie kraftaufwendig
die gewöhnliche Alltagsbewältigung
in Haiti ist: ohne Kühlschrank muss jede Mahlzeit frisch zubereitet, ohne
Supermärkte alles frisch eingekauft, jeder einzelne Preis verhandelt werden; ohne
Auto alle Einkäufe eigens nach Hause getragen (elegant auf dem Kopf), Holzkohlefeuer
sammeln, entfachen statt Herdplatte antippen, Trinkwasser in Gallonen
einkaufen, Waschwasser in Eimern heranschleppen, jedes einzelne Kleidungsstück
von Hand schrubben, waschen, wringen, aufhängen; ohne Pampers, jedes Malheur
aufwischen; ohne Hundefutter für die Tiere extra kochen; Transportwege über Holperstraßen,
Staubüberzogen kommt man zurück, ohne Strom zündet man die Petroleumlampe an. Staubsauger
gibt es keinen, Wochenputz auch nicht, da der Staub täglich durch alle Ritzen
dringt. Ich vermisse Dich, Du meine Waschmaschine, mein mannsgroßer
Kühlschrank, mein Trockner, meine Waschmaschine, mein Umluftherd für einen
knackig braunen Kuchen, mein Stromnetz, das mir treu ist,… Habe gelernt auch
ohne Euch zu leben, doch eines Tages hoffe ich Euch wiederzusehen. Bin
beschämt, wenn ich mich dabei ertappe zu klagen, wie angeblich schwer mein
Leben sei.
„Kleider machen Leute“
ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Ich kann nur immer wieder staunen, wie
sauber und korrekt gebügelt die Menschen zur Kirche spazieren oder die Kinder
mit ihrer Uniform in die Schulen, da ich um die Häuser weiß, aus denen sie kommen,
die Bütten unterm Bett als Schrankersatz, die Bügeleisen, die mit Holzkohle
erhitzt werden,… Man trägt ein Schweißtuch fürs Gesicht bei sich, zudem ein
Tuch, um sich den Staub der Straßen von den Schuhen zu wischen. Haitianer schütteln
verständnislos bis verächtlich den Kopf über die Ausländer, die fraglos die
finanziellen Mittel hätten, sich anständig und fein zu kleiden, sich aber aus
unerklärlichen Gründen vernachlässigen. Nach einem Besuch in den USA nannte unser
Direktor Walner als befremdlichstes Ereignis, eine Abiturientenfeier, zu der
viele Väter in kurzen Alltagshosen aufgetaucht sind, während er in seinem
perfekten Anzug saß. Es wirkte wie ein Zerfall von Kultur für ihn, ein Zeichen
von Respektlosigkeit. Bei meinem Visaantrag in der Hauptstadt, wurde ich mit
einem Oberteil, das nicht meine Schultern bedeckte schlichtweg nicht in das Gebäude
reingelassen
Eine interessante Frage ist, in welchen Situationen uns Haitianer
als „einfältig“ bezeichnen würden: „Du
wirst keinen einzigen Haitianer finden, der nicht an Gottes Existenz glaubt,
auch wenn sich nicht jeder dafür entscheidet, ihm zu dienen. Uns sitzen Europäer
gegenüber, die durch wissenschaftliche Theorien aufgeblasen sind und uns hinsichtlich
unserer Spiritualität als „einfältig“ bezeichnen.“ Eine zweite Situation kommt
häufig vor im Zusammenhang mit Krankheiten. Wir Europäer gehen von anatomischen
Zusammenhängen aus, die Ursache ist meist durch Bakterien, Viren oder erbliche Disposition
erklärbar. Für den Haitianer liegt die Ursache zu 95% im spirituellen Bereich. Ein
Nachbar oder ein eifersüchtiger Freund habe Magie betrieben und durch einen
Fluch diese Krankheit angehext. Wir hingegen schließen spirituelle
Zusammenhänge zu 95% kategorisch aus. Spannend wird es, wenn alle ihre
Besserwisserei beiseitelegen und man sich auf einen Dialog einlässt. Ich bin
sicher, wir können viel voneinander lernen und spannende Zusammenhänge
entdecken. So existiert ein so
interessantes Naturheilwissen, das ich
wie ein Schwamm aufsauge. Es ist gut, logisch zu denken, Beweise zu suchen und Zusammenhänge
zu erforschen, doch manchmal steht unsere Kopflastigkeit unserem Herzen im Weg.
Mitleid ist
ebenso ein unreflektiertes Gefühl. Eine Frau mit 7 Kindern tut mir von
vornherein leid. Haitianische Freundinnen bemitleiden umgekehrt mich, da ich nur
zwei leibliche Mädchen zur Welt gebracht habe. Genauso wenig, wie ich ihr
ungefragtes Mitleid möchte, möchten sie sicherlich das Meine.
In professionalisierter Form der Boshaftigkeit begegnet uns
der Voodoo in erschreckenden Ritualen:
Augen oder Gliedmaßen der eigenen Kinder werden geopfert, bis hin zu Säuglingen.
Tieropferreste findet man am Morgen auf verschiedenen Straßenkreuzungen. In
Europa ist eher eine scheinbar harmlosere Form des Liebesvoodoo bekannt
(erhältlich in jeder größeren Buchhandlung), doch satanische Kulte existieren dort
ebenso. Die haitianische Krönung ist die Zombifizierung, die weltweit in Literatur
und Filmen aufgegriffen wird.
„Made in Germany“
ist ein anerkanntes und stolzes Label. Die haitianische Flagge wird täglich in
Begleitung der Nationalhymne vor jeder Schule im Land gehisst, ein schönes patriotisches
Ritual, doch leider gilt das Label „Made in Haiti“ als minderwertig.
Wunderschöne Ledersandalen, Taschen, Flechtstühle, gewebte Tischdecken, Holzmörser,
Schreinerwerke, kreative Künstlerartikel, … dies wirkt für uns europäische Ökos
anziehend, doch das haitianische Volk selbst kauft lieber Importprodukte, wenn
es kann. Jammerschade. Es ist eine andere Art von Nationalstolz. Wir definieren
uns eher dadurch, was wir produzieren, unsere Leistung, sind stolz auf die deutsche
Qualität. Haitianer definieren sich
dadurch was in der Vergangenheit erreicht haben: schließlich erkämpfte Haiti
die Revolution als der erste unabhängige schwarze Staat 1804.
Zeitwörter sind sehr dehnhafte Begriffe in Haiti.
„Talè“ kann gleich, in 2 Minuten, in 5 Tagen oder auch eine hoffnungsvolle
Vertröstung auf Niemals bedeuten. Um 9:59 ist es immer noch 9Uhr, da
schließlich noch eine 10 davor steht. Man sieht, Pünktlichkeit ist ein
Verständnisproblem, eine Stunde ist keine Verspätung. Zu Hochzeiten sind wir 2
Stunden –deutsch gefühlt „zu spät“- gekommen und waren immer noch die ersten
Gäste, die nochmal eine Stunde warteten, bis das Brautpaar kam. Dafür altert
man auch schneller: ab dem 1.1. des aktuellen Jahres teilt jeder auf die Frage
hin, wie alt er sei, das kommende Alter für dieses aktuelle Jahr mit. Egal, ob
er am 2.Januar oder aber am, 31.Dezember geboren ist. Ganz ehrlich, man sieht
es ihnen eh nie an – das Alter. Da es keinen Zug gibt, nur wenige Fliegen, die
Schulen ebenso dehnhaft mit der Zeit umgehen,… die deutsche Pünktlichkeit, die
Erwartung des deutschen Arbeitgebers auf pünktliches Erscheinen am Morgen – es
bleibt ein unverständliches Mysterium für einen Haitianer. Wir hoffen, dass mit
der Einführung recht pünktlicher Busverbindungen (nur 10-15 Minuten verspätete
Abfahrt, dafür bleibt man manchmal auf der Strecke hängen, weil das Benzin
ausging), haben wir Deutsche natürlich Hoffnung auf Besserung. Zeit ist nämlich
Geld. Und im sozialen Kontext gibt es nichts Wertvolleres als Zeit, denn jede
Minute ist ein Teil meines Lebens, der nie wiederkehrt: dieses Geschenk ist
wertvoll. Der Durchschnittshaitianer schlägt jedoch jeden einzelnen Tag seines
Lebens die Zeit tot – ohne Arbeit, Alltagsstruktur, mangelndem Sinn der eigenen
Misere. Hier müssen sich Strukturen ändern, um aufeinander zugehen zu können.
Ich lerne die entschleunigte Lebensgeschwindigkeit zu genießen und nicht auf
einen sicheren Stress-Herzinfarkt zuzusteuern. Haitianische Gelassenheit ist
hier die beste Medizin. Doch noch ein anderer Aspekt fasziniert mich: Man nimmt
sich Zeit – Zeit für Begegnung. Beim Grüßen, frägt man nach allen Familienangehörigen,
danach wie man geschlafen hat, was man gegessen hat,… für Beziehungen nimmt man
sich Zeit. „Beziehungspflege“ wird ein fassbarer Begriff.
Ich hoffe ihr hattet Spaß
beim Eintauchen in diese bunten Welten!
Dem zunächst Fremden zu
begegnen gewährt einen neuen Blick in den eigenen Spiegel. – und weitet die
Wahrnehmung und das Herz!
Wir machen diese
Erfahrung hier in Haiti, doch in Deutschland geben uns die Flüchtlinge ebenso die
Chance neue Farben und Formen zu entdecken.
Toller Bericht und Gedanken die mich teilweise auch immer wieder beschäftigen, wenn auch ohne den passenden Kontrast lebhaft vor Augen zu haben. Und es ist schön zu sehen, dass jede Kultur von der anderen lernen kann und dass die Offenheit sich auf etwas anderes Einzulassen und sich mit ungewohntem Verhalten und Denken zu beschäftigen, die beste Grundvorraussetzung ist die Welt ein bißchen besser zu verstehen und vielleicht auch ein bißchen besser zu hinterlassen!
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