- Auszug aus dem Missionsheft der Lebensmission e.V. -
2 Jahre Haiti
… wie will man dies in Worte, wohlgeformte Saetze und
letztendlich auf 1 Seite fassen?
Der Mensch neigt dazu, im Rueckblick Erfahrungen zu
beschoenigen, so kann ich sagen, dass das erste Jahr in Haiti sehr schwierig
war. Mein Hauptwerkzeug als Sozialpaedagogin ist und bleibt nunmal die Sprache.
Geduld zaehlt dahingegen nicht gerade zu meinen Staerken, doch diese ist beim
Erlernen einer Fremdsprache von noeten. Sich in einer komplett anderen Kultur
wiederzufinden, stellt alles was uns gewohnt ist, was uns Sicherheit und Vertrautheit
bietet in Frage. Die uns allzu selbstverstaendliche Funktionsfaehigkeit der deutschen
Gesellschaft – in Haiti nicht existent. Hier kaempft man einen ganzen Tag um
Dinge, die in Deutschland in 1 Stunde ohne groessere Anstrengung erledigt
werden koennten.
Das Rollenverstaendnis, das Familienleben, moralische Werte,
gesellschaftliche Normen,… alles wird auf den Kopf gestellt. Dies ist die erste
Phase, “die Verunsicherung”, in der
alles bisher Bekannte in Frage gestellt wird, man sich tagtaeglich mit fremden
Lebenskonzepten konfrontiert sieht und sich dabei selbst als Fremdkoerper
wahrnimmt. Selbst fuer kleine Erledigungen ist man auf die Hilfe der
Mitmenschen angewiesen und die gewohnte Unabhaengigkeit scheint verschwunden,
da man sich in ungewohntem Raum eben nicht mit den vertrauten Konzepten zu
orientieren vermag.
Die zweite Phase nenne ich “die konstruktive
Reflektion”, in der man sich oeffnet fuer neue Loesungen, neugierig in die
Lebenslogik der Haitianer eintaucht, verstehen lernt. Nach einem Jahr hat man
genuegend Sprachkenntnis, um Fragen zu stellen sowie komplexe Antworten zu
begreifen, eine Basis um Freundschaften zu knuepfen und auf der Beziehungsebene
tiefer eintauchen zu koennen. Missverstaendnisse und kulturelle Fettnaeppfchen
koennen schneller erkannt und geklaert werden, man findet sich im Alltag einer
fremden Kultur mehr und mehr zurecht und fuehlt sicheren Boden unter den
Fuessen. Man hinterfraegt die festgefahrenen eigenen Muster, um letztendlich zu
begreifen, dass die wohlbekannte Lebenswelt nicht die einzige lebenswerte
Wahrheit und die eigene kulturelle Praegung nicht das Ultimo fuer Jedermann
ist.
Die dritte Phase sehe ich als “die Bereicherung” an, in der man sich durch die Reflektion neu
bewusst darueber sein darf, wer man ist, woher man kommt und welche Praegungen
wir mitbringen. Man weiss die jeweiligen Staerken beider Kulturen zu schaetzen,
sowie die Schwaechen zu erkennen, um sich gegenseitig zu bereichern. Jeder darf
seine Kultur leben und Andere mit dieser beschenken, genauso wie man sich von
den Haitianern beschenken laesst. Die Lebensfreude, die Leidensfaehigkeit, das
Auskosten des Hier und Jetzt, die Kreativitaet aus wenig Material etwas zu
erschaffen, das staendige Umgebensein von Mitmenschen und die allzeitbereite
Nachbarschaftshilfe sind einige Staerken der haitianischen Kultur. Unsere
demokratische Praegung mit individueller Eigeninitiative, dem Glauben an das
Machbare und der Ehrgeiz zur Zielerreichung, sowie die analytische Planung der
einzelnen Schritte auf dem Weg dorthin sind einige Staerken der deutschen
Kultur. Gemeinsam ergibt es einen produktiven Coktail sozialer Energie, die uns
als geliebte Geschoepfe Gottes Seite an Seite zusammenruecken laesst, um
gemeinsam seinen Willen zu vollbringen.
Nach 2 Jahren Haiti kann ich sagen: “Jetzt kann es erst richtig losgehen!”
Also haben wir unseren Vertrag nochmal um 2 Jahre
verlaengert und befinden uns somit in der Halbzeit.
Am eigenen Leib zu erfahren, was es bedeutet wie Petrus aus
dem Boot der Komfortzone auszusteigen, sich aufs wilde Wasser zu wagen, seinen
Blick immer wieder neu auf Jesus auszurichten, dabei ebenso immer wieder zu
sinken, um erneut herausgezogen zu werden, das kostet etwas. Doch unser Gewinn
ist es sich mehr denn je darueber bewusst zu sein, dass Gott allein unser Leben
in seiner Hand haelt und er auf der ganzen weiten Welt allezeit treu ist uns
aufzufangen, zu bewahren und zu ermutigen unsere kleinen, engen Lebenskonzepte
zu weiten, Platz zu machen fuer unsere Mitmenschen und seinem Herzschlag zu
vertrauen.
Es ist wunderbar Gottes Fruechte zu erkennen, die man
innerhalb von 2 Jahren unter Schweiss und Muehe gesaeht hat. Er fraegt uns
lediglich das klitzekleine Senfkorn zu saehen, die paar Brote und Fische zu
investieren, die wir in Haenden halten – und er vermehrt es, laesst einen
riesigen Baum wachsen, der Frucht bringt fuer Viele und uns selbst Schatten bereitet.
Ein ganz
besonderes Geschenk durfte Ende September bei uns einziehen: unser Sohn Dieune.
Als Findelkind kam er mit einem Jahr ins Kinderdorf und ist uns gleich
ans Herz gewachsen, so dass wir entschieden ihn zu adoptieren . So ist unser
himmlischer Vater, er bittet uns unsere eigene Heimat zu verlassen, um
Heimatlosen Heimat zu werden.
Wunderbar.
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